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Der fremde Freund - Drachenblut

Der fremde Freund - Drachenblut

Titel: Der fremde Freund - Drachenblut
Autoren: Christoph Hein
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Es würde mir keinen Spaß machen, den Respekt und das bißchen ambivalente Liebe, die ich für den Alten verspüre, in ein lächerliches Mitleid sich verwandeln zu sehen. Ich vermute, er hat Probleme, und ich hoffe, nie von ihnen zu erfahren. Ich habe auch Probleme, und Anne hat Probleme und meine Eltern und Hinner und meine Schwester. Und Henrys Frau hat Probleme. (Heute, wo Henry tot ist, wird sie auch Probleme haben, aber andere. Und auch die will ich nicht wissen.) Nur Frau Rupprecht hat keine Probleme. Jetzt hat sie keine Probleme mehr, dafür hat der Hausmeister welche.
    Mit Henry sprach ich nicht über seine Probleme. Einige deutete er an, andere ahne ich. Es gelingt uns glänzend, sie zu umgehen. Die intimste Frage, die wir uns stellen, ist ein: Wie gehts. Und die gegenseitigen Antworten fallen gemäß der erwünschten Übereinkunft aus. Wir müssen bei uns keine unangenehmen Überraschungen befürchten. Wir werden uns nicht mit Mißlichkeiten behelligen. Wir werden eine hübsche Beziehung nicht mit unlösbaren Schwierigkeiten erdrücken. Auf diese Bereicherung unseres Verhältnisses verzichten wir. Uns geht es gut. Wann immer wir uns sehen, jedem von uns geht es gut. Darauf können wir uns verlassen, das ist eine sichere Insel in einem Meer überschwappender persönlicher Probleme. Wie geht es dir. Gut. Anderenfalls kann man allein bleiben und die Zimmerwände anschreien. Wenn wir uns sehen, geht es Henry gut, geht es mir gut. Ich bin nicht glücklich, aber ich bin auch nicht unglücklich. Ich bin zufrieden, und das ist viel. Und ich bin auch zufrieden über diese wortlose Vereinbarung, die unser Verhältnis einfach und angenehm macht.
    Am 18. April starb Henry. Den Tag zuvor hatten wir uns gesehen. Ich hatte bei ihm einen Kaffee getrunken, ehe ichin die Klinik fuhr. Zwei Tage später erfuhr ich, daß er tot war. Frau Luban war es, die bei mir klingelte, um es mir zu sagen. Ich weiß nicht, wie sie es erfahren hatte. Sie hat es mir sicher gesagt, ich habe es vergessen oder nicht zugehört. Sie klingelte, und dann sagte sie: Ich habe eine schlechte Nachricht für Sie. Herr Sommer ist gestorben. Ich glaube, es interessiert Sie.
    Ihren Blick werde ich nicht vergessen, diese Mischung aus Mitleid und dreister Neugier. Sie versuchte, in meine Wohnung zu kommen, was ich verhinderte. Ich verhinderte es, weil ich einfach in der Tür stehenblieb. Ich war viel zu benommen, um die Mitteilung begreifen zu können. Frau Luban machte den Versuch, mich am Arm zu nehmen und ins Zimmer zu führen. Irgendwie gelang es mir, sie davon abzubringen. Sie sagte etwas, was ich nicht verstand. Dann fragte sie, ob sie mir helfen könne. Ich sah sie an und sagte: Nein. Sie blieb vor mir stehen. Dann sagte ich: Danke. Ich schlug die Tür zu.
    Ich setzte mich ins Zimmer und rauchte. Ich dachte darüber nach, was mir Frau Luban gesagt hatte. Ich hatte das Gefühl, irgendeinen Entschluß fassen zu müssen. Es machte mich nervös, daß ich nur im Sessel saß und Zigaretten rauchte, aber ich wußte nicht annähernd, was ich tun sollte. Ich zweifelte keinen Moment an der Nachricht, was mich heute verwundert. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich zu vergewissern. Die Nachricht von Henrys Tod kam für mich nicht überraschend. Ich kann es mir selbst kaum erklären wieso, aber überrascht war ich nicht. Henry starb unerwartet, plötzlich, aus heiterem Himmel. Es war schrecklich, aber nicht überraschend. Ich habe seinen Tod nicht geahnt oder befürchtet, er traf mich unvermutet. Nur überrascht hat er mich nicht, was mir seltsam vorkam und mich befremdete.
    Henry war erschlagen worden.
    Am Morgen nach dem Besuch von Frau Luban rief ichHerrn Krämer an, den Kollegen von Henry, den ich einmal gesehen hatte. Ich gefiel ihm damals, und er versuchte, mit mir zu flirten. Später telefonierte ich mehrmals mit ihm, wenn ich Henry sprechen wollte.
    Ich fragte ihn, wann Henrys Beerdigung sei. Er antwortete, er könne es nicht sagen, die Leiche sei noch nicht freigegeben. Ich erschrak. Dann fragte er, ob ich noch am Telefon sei. Ich beeilte mich zu antworten. Wir verabredeten uns nach Feierabend in einem Restaurant.
    Als er kam, suchte er die Tische nach mir ab. Sein Blick streifte mich zweimal, er erkannte mich nicht. Ich winkte ihm. Er war blaß und wirkte zerfahren. (Er unternahm keinen Versuch, mit mir zu flirten.) Unentwegt grinste er, ein nervöses Lächeln, er war befangen. Ich verstand nicht warum. Dann erzählte er. Er hatte Henrys Tod
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