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Der Fluss

Der Fluss

Titel: Der Fluss
Autoren: Gary Paulsen
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Floß. War es eine Bisamratte, ein Fischotter oder ein Biber? Der schlanke Kopf schnitt eine keilförmige Welle in den Wasserspiegel, die zum Floß herüberschwappte. Doch im nächsten Moment hob sich der riesige Schädel eines Ungeheuers aus den Wellen – der Kopf eines Tiefsee-Monsters, das seinen zahnbewehrten Rachen aufriss und sich zum Angriff bereit machte … bereit, sich auf Brian zu stürzen und ihn mit seinen mächtigen Zähnen zu packen und von den schwankenden Floßbalken zu reißen.
    Brian ließ das Paddel fallen und griff nach dem Speer, um sich zu verteidigen, um das Monster zu töten, bevor es ihn angriff. Doch als er energisch den Kopf schüttelte, war die Schreckensvision verschwunden, während ein harmloses Tier – ein Otter, ein Biber? – ins Wasser ab tauchte.
    Und Brian war wieder mit Derek allein.
    Geduldig hob er sein Paddel auf und ruderte weiter, tief geduckt, mit mächtigen Zügen.
    Irgendwann gegen Morgen beschlich ihn ein furchtba rer Gedanke. Brian wusste nicht, wie es angefangen hatte - und wollte sich später nie mehr daran erinnern. Immerhin zerrten zwei schlaflose Nächte an seinen Nerven.
    Das Floß hing wie verankert im reglosen Wasser, während Brian sich gegen das Paddel stemmte und weiterzurudern versuchte, dorthin, wo die Strömung wieder einsetzte. Und irgendwann – zwei Schläge links, zwei Schläge rechts – überfiel ihn im Halbschlaf der Gedanke, dieser grausame und krankhafte Gedanke:
    Das Floß ließ sich nicht von der Stelle bewegen, weil es so schwer war. Aber warum war es so schwer? Weil das Gewicht des Mannes, der dort auf den Balken lag, es ins Wasser drückte. Wie aber, wenn der Mann verschwun den wäre, wenn er nicht mehr da wäre? Dann wäre das Floß viel leichter und Brian könnte es mühelos mit dem Paddel vorwärts treiben …
    Wie also, wenn Derek nicht mehr da wäre?
    Immerhin war es sein Fehler gewesen, aufzustehen statt liegen zu bleiben, als das Unwetter tobte. So war er vom Blitz getroffen worden – und eigentlich war es seine eigene Schuld. Er könnte tot sein. Verschwunden. Nicht wahr?
    Während Brian den reglosen Körper des Mannes vor sich liegen sah, bohrte sich dieser Gedanke in sein Ge hirn. Ein Gedanke, so schrecklich, dass er ihn nicht zu Ende denken konnte. Aber er kam immer wieder: Wie wäre es, wenn Derek nicht mehr da wäre? Ohne Derek wäre dies alles nicht passiert. Seine Idee war es gewesen, das Schicksal ein zweites Mal herauszufordern und in die Wildnis zu gehen. Sein Fehler war es gewesen …
    Wenn er nun in den Wellen verschwände?
    »Nein!« Brian schrie es so laut heraus, dass der Klang seiner Stimme ihn aus dem Halbschlaf riss. Sofort war er hellwach und tastete ängstlich mit der Hand nach Dereks Bein, um sich zu vergewissern, dass er noch da war; dass er ihn nicht doch losgeschnitten und über Bord gestoßen hatte; dass er immer bei ihm bleiben würde. Und dass er nie wieder solch einen Gedanken denken würde.
    »Wir bleiben zusammen«, murmelte er, und griff nach dem Paddel. »Wir bleiben zusammen – bis zum Schluss.«
    Noch eine halbe Stunde paddelte er weiter und kämpfte gegen den Schlaf, bis ein kühler Windhauch ihm die Morgendämmerung ankündigte; bis im Osten ein Lichtstreifen auftauchte.
    Brian ließ das Paddel sinken und schaute andächtig zum Himmel hinauf – und er sah, wie schnell der Mor gen heraufzog. Eben war es noch so dunkel gewesen, dass Dereks Gestalt auf dem Floß kaum zu erkennen war. Und schon zeichneten sich am Ufer die ersten Bäume im grauen Schimmer der Dämmerung ab.
    Oh, und die Ufer bewegten sich! Das Floß glitt dahin, und die Ufer blieben zurück, obwohl Brian nicht mehr paddelte.
    Er hatte es geschafft. Er hatte die tote Strecke auf dem See überwunden und jetzt trug der Fluss ihn rasch mit der Strömung weiter.
    »Danke …«, flüsterte Brian und spürte, dass es ein Ge bet war. Ein Dankgebet, nicht nur für den Fluss und die Strömung, die ihn trug, sondern auch für dieses andere.
    Dafür, dass er die Nacht mit Derek zusammen über standen hatte.
    Dafür, dass er es geschafft hatte.
    »Danke.«

19
19
 
    Als es hell genug war, holte Brian die Landkarte hervor und breitete sie auf der Aktenmappe aus.
    Der See, den er überquert hatte, war nicht zu sehen. Es gab ein paar Seen auf der Karte, größere und auch kleinere, aber so langsam, wie er vorangekommen war, konnte er sie unmöglich schon erreicht haben.
    Wenn aber der See, der hinter ihm lag, nicht auf der Karte verzeichnet war,
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