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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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aufzusetzen. Mein Atem kam ruckartig, und die Luft, die ich einatmete, schien nicht die frische Nachtluft zu sein, die durch das gekippte Schlafzimmerfenster strömte, sondern die stickige, staubige aus dem sargähnlichen Gefängnis.
    Eingesperrt. Hilflos. Verlassen. Ohne Ausweg.
    Meine Kehle war wie zugeschnürt, meine Augen füllten sich mit Tränen, meine Lippen öffneten sich erneut. Ehe ich noch einmal aufschrie, griff eine Hand nach mir, nicht bedrohlich, nicht brutal, sondern zärtlich und warm. Sie streichelte über meinen Unterarm und löste wohlige Schauer aus; sämtliche Härchen richteten sich auf, aber nicht vor Kälte, sondern vor Genuss. Endlich löste sich die Schreckensstarre, in der ich mich befunden hatte. Ich erwiderte den Griff der Hand, verkreuzte meine Finger mit ihren. Und presste mich an Nathan.
    Er hatte sich aufgerichtet und sah mich besorgt an.
    »Sophie, du zitterst ja«, murmelte er. »Hast du schon wieder schlecht geträumt?«
    Ich nickte mit trockenem Mund. Es war nicht das erste Mal seit letzter Woche, dass ich schreiend erwacht war, aber noch nie war ein Albtraum so real gewesen. Stets hatten mich im Schlaf nur diffuse Ängste und das Gefühl einer Bedrohung heimgesucht, nie diese Panik – die Panik einer Gefangenen.
    Eingesperrt. Hilflos. Verlassen. Ohne Ausweg.
    Ich richtete mich auf und fuhr mir über die Stirn, die nass vor Schweiß war.
    »Was … was hast du denn geträumt?«, fragte Nathan.
    Ich rang nach Worten, aber brachte keine hervor. Zum einen gab es nichts, womit ich die Panik dieser gefangenen … hilflosen Frau beschreiben konnte, zum anderen hatte ich Angst, diesen Gefühlen noch mehr Macht zu geben, indem ich davon erzählte. Also sagte ich nur: »Es hat alles mit dem Schulfest begonnen.«
    Nathan zog meinen Kopf auf seine Schulter. »Der Zusammenbruch der Tribüne – das war ein riesiger Schock für dich. Das muss deine Psyche erst mal verkraften. Aber am Ende ist doch alles gut ausgegangen.«
    Ich nickte, atmete tief durch. Er hatte recht – vermeintlich hatte alles gut geendet. Nicht nur, dass niemand ernsthaft verletzt worden war – auch das Geheimnis von Nathans Existenz war nicht enthüllt worden. Während alle anderen Eltern misstrauisch auf uns geschaut hatten, hatte Lukas Arndt zwar noch mehrmals nachgefragt, wie es möglich war, dass Nathan so ungemein stark, schnell und wendig sein konnte, und wie es ihm gelungen war, gleichzeitig mich von der Tribüne zu ziehen und diese zu stützen, doch ehe wir uns irgendwelche Lügen ausdenken konnten, hatte uns die Direktorin erlöst. Ebenso langatmig und wortgewaltig wie schon die Eröffnungsrede ausgefallen war, hatte sie sich jetzt bei Nathan für seinen mutigen, selbstlosen Einsatz bedankt. Da niemand in der Stimmung war, ihren endlosen Reden zuzuhören, und zudem der Notarzt und die Feuerwehr kamen, hatte sich die Menge rasch zerstreut. Bei zufälligen Begegnungen wurden mir seither zwar neugierige Blicke zugeworfen, aber die war ich gewohnt, war ich doch – obwohl ich seit fünf Jahren in der Nähe von Hallstatt lebte – für die Einheimischen immer die Zugezogene aus Salzburg geblieben. Die prächtige Villa, die ich von meinem Vater geerbt und renoviert hatte, erweckte Neid, der gutaussehende und wie distanziert wirkende Mann an meiner Seite, von dessen Vergangenheit man nichts wusste, Befremden. Von uns allen war Aurora am besten in die Hallstätter Gemeinschaft integriert, auch wenn sie, von Mia Arndt abgesehen, nicht viele Freundinnen hatte.
    Der Gedanke an unsere Tochter hatte offenbar die Sorgenfalte auf meiner Stirn noch vertieft, denn Nathan blickte mich forschend an und fragte: »Gibt es sonst noch etwas, das dich belastet?«
    Ich antwortete nicht. Es wäre mir schon schwer genug gefallen, meinen Traum in Worte zu fassen – aber nahezu unmöglich fühlte es sich an, meine Angst um Aurora zuzugeben, seitdem sie mich mit diesem fremden, wissenden Blick angestarrt hatte, der das Unheil vorauszusehen schien.
    Schweigend löste ich mich von Nathans Schulter, stand auf und band mir die Haare zusammen. Das Morgenlicht blendete mich, als ich die Vorhänge beiseite schob, aber die Sonne war nicht mehr so warm wie noch einige Tage zuvor.
    »Sophie, was hast du denn?«, fragte Nathan.
    Lautlos hatte er sich erhoben, war an meine Seite getreten. Seine Augen waren durchdringend auf mich gerichtet. Er gehörte nicht zu den Nephilim, die Gedanken lesen konnten, doch wenn er mich auf diese eigentümliche
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