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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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gehörig gewachsen, und wenn es so weiterging, würde sie mich, die ich gerade noch einen halben Kopf größer war, bald eingeholt haben. Nicht nur was ihre Größe anbelangte, kam sie ganz nach ihrem Vater – auch ihre schlanke, feingliedrige Figur erinnerte an ihn. Was sie jedoch nicht besaß – oder vielmehr
nicht mehr
– waren seine Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Aurora wirkte meist verträumt, etwas langsam und in sich gekehrt.
    Mia hingegen war höchst lebendig, unternehmungslustig und ständig auf Schabernack aus. Sie stand eigentlich nie still, lief am liebsten in Hosen herum und hatte ihr blondes Haar raspelkurz geschnitten, damit es sie nicht störte, wenn sie in Windeseile auf Bäume kletterte oder im eiskalten Wasser schwamm. Beim Jonglieren wurde einmal mehr deutlich, wie geschickt sie war. Wahrscheinlich hätte sie ihre Bälle noch ewig in der Luft halten können, aber Aurora schaffte es keine fünf Minuten lang, und um die Freundin nicht bloßzustellen, tat Mia so, als sei es so geplant gewesen, und ließ nun auch ihre Bälle fallen.
    Applaus brandete auf.
    »Toll gemacht«, meinte Lukas Arndt und klatschte. Ich erwiderte sein Lächeln und versuchte, nicht mehr an die SMS zu denken.
    »Ich bin so froh, dass sich die beiden angefreundet haben«, murmelte ich, »Mia tut Aurora richtig gut.«
    Lukas Arndt nickte. »Es ist großartig, dass Mia schon so kurz nach unserem Umzug nach Hallstatt eine Freundin gefunden hat.«
    Eben verließen die beiden Mädchen die Bühne. Auroras Wangen waren vor Anstrengung gerötet, doch vor allem war sie tiefbraun: Dank Mia hatte sie im Sommer so viel Zeit im Freien verbracht wie noch nie zuvor.
    Wieder rutschte ich etwas unbehaglich auf dem harten hölzernen Sitz herum, während nun ein Mädchen aus Auroras Klasse einen Tanz aufführte und zwei weitere Kinder eine Fechtübung absolvierten. Danach war erstmals ein Junge an der Reihe: Marian Orqual. Er betrat die Bühne nicht stolz wie die anderen, sondern schien sich so klein wie möglich machen zu wollen. Kaum zu glauben, dass er wie Mia und Aurora zwölf Jahre alt war! Er wirkte nicht nur kindlicher als sie, sondern war auch fast einen ganzen Kopf kleiner, was noch verstärkt wurde, weil er den Kopf so tief hängen ließ. Schmal war nicht nur seine Statur, sondern auch sein Gesicht, so dass seine Augen umso größer erschienen. Diese Augen waren schreckgeweitet, denn ihm setzten so viele Menschen auf einmal zu.
    Wieder hörte ich eine Stimme dicht neben mir – diesmal nicht die von Lukas Arndt, sondern die von einer älteren Dame, Marians Großmutter Susanna Orqual. »Hoffentlich schafft er es!«, stieß sie voller Bange aus.
    Unwillkürlich hob ich die Hand und legte sie tröstend auf ihre Schultern. Sie waren knöchern und bebten. »Es wird alles gutgehen – ich bin mir ganz sicher«, erklärte ich überzeugt. »Er lebt doch fürs Klavierspielen.«
    Das Klavier war in diesem Fall ein Keyboard. Marian war mit weiterhin ängstlichem Blick zum Instrument vorgetreten, hatte daran Platz genommen und hob nun erstmals leicht den Kopf, um sich umzusehen. Als seine Augen auf mich fielen, nickte ich ihm aufmunternd zu, und mein Mund formte die Wörter: »Nur Mut!«
    Die Panik in seinem Blick ließ etwas nach – allerdings machte er keine Anstalten, die Noten aufzuschlagen und endlich mit dem Spiel zu beginnen.
    Wieder nickte ich ihm zu. Ich war seit über einem Jahr seine Klavierlehrerin, hatte gemeinsam mit ihm dieses Stück einstudiert – eine Gnossienne von Eric Satie – und war nun fast aufgeregter als bei Auroras Auftritt. Diese war zwar nicht sonderlich gut beim Jonglieren, aber die Anwesenheit der vielen Menschen machte ihr nicht auch nur annähernd so viel Angst wie dem Jungen. Sie war nicht ganz so sehr darauf aus, im Mittelpunkt zu stehen wie Mia, aber sie war ein fröhliches, selbstbewusstes Mädchen. Marian hingegen war nicht nur ängstlich und schüchtern – sondern überdies stumm. Ich wusste nicht genau, was dazu geführt hatte, aber in frühester Kindheit – das hatte mir seine Großmutter einmal erzählt – hatte er plötzlich aufgehört zu sprechen.
    »Hoffentlich schafft er es«, wiederholte Susanna Orqual.
    Ich wollte ihr gerne Mut zusprechen, fragte mich aber nun selbst zunehmend irritiert, warum Marian nicht endlich zu spielen begann. Ich sah, wie sich Susanna Orquals Hände nervös verkrampften und sie sich angespannt vorbeugte – ganz anders als der Mann an ihrer Seite, der sich kein
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