Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
Vom Netzwerk:
auch Samuel Orqual sicher auf den Boden zu verhelfen? Warum war er unter der enormen Last nicht zusammengebrochen, und vor allem: Warum war er so schnell hier gewesen?
    Lukas Arndt fand die Sprache als Erster wieder. »Das war absolut unglaublich!«, rief er. »Dieses Tempo! Diese Kraft! Diese Gelenkigkeit! Das … das gibt es doch gar nicht!«
    Getuschel begleitete seine Worte, verstummte dann wieder. Das neuerliche Schweigen zeugte nicht nur von Fassungslosigkeit, sondern von Misstrauen, Anspannung, sogar Furcht. Ich sah, wie Nathan nach Worten rang, und suchte selbst nach Ausflüchten – dass Nathan ein spezielles Trainingsprogramm absolviert hatte, dass diese Gefahrensituation außergewöhnliche Kräfte mobilisierte, dass er – mit Adrenalin vollgepumpt – zu schier Übermenschlichem fähig sei. Doch all diese Erklärungsversuche erschienen mir angesichts seiner enormen Kräfte – Kräfte, die er in Hunderten von Jahren erworben hatte – vollkommen lächerlich.
    Ehe einer von uns beiden etwas sagen oder vielmehr die Menschenmenge belügen konnte, kam Aurora auf uns zugelaufen – Aurora, die mich vorhin mit diesen weitaufgerissenen, durchdringend blauen Augen angestarrt hatte wie eine Fremde, die so alt gewirkt hatte und so wissend, die geahnt hatte, dass die Tribüne gleich einstürzen würde, weil sie vielleicht etwas gesehen oder gehört hatte, das normale menschliche Sinne nicht erfassen konnten.
    Meine Knie begannen zu zittern, kalte Schauder überliefen meinen Rücken, ich konnte mich kaum noch aufrecht halten. Auf meiner Hand glänzten Blutstropfen, und als ich verwirrt darauf starrte, ohne den Schmerz zu spüren, erkannte ich bestürzt, dass die Ängste, die mich die letzten fünf Jahre begleitet hatten, Wirklichkeit geworden waren.
    Die Angst, dass die Menschen die Wahrheit über Nathan erfahren würden, dass sie herausfinden könnten, dass er kein gewöhnlicher Mann war, sondern ein Nephil, halb Engel und halb Mensch, unsterblich und viel stärker, vielseitiger und genialer als jeder normale Mensch.
    Und die Angst, dass in unserer Tochter Aurora das Erbe ihres Vaters erneut erwachen würde, dass sie nicht das fröhliche Kind bleiben würde, das sie die letzten Jahre gewesen war, sondern dass sie sich in eine Nephila wandeln würde.

I.
    Als sie zu sich kam, war es dunkel. Und es war kalt. Nicht so unerbittlich wie im Winter, wenn die Kälte sich in die Glieder verbeißt wie ein hungriges Tier. Diese Kälte war geduldiger, durchdrang sie erst nach und nach, ließ sie noch nicht zittern und beben, sondern überzog ihre Haut nur mit einem Frösteln.
    Ja, es war dunkel, und es war kalt. Dies waren die ersten Eindrücke nach dem Nichts. Was vor dem Nichts geschehen war, wusste sie nicht mehr. In der Tiefe der Ohnmacht hatte sie jede Erinnerung verloren – und auch jedes Zeitgefühl. Vielleicht war sie nur wenige Augenblicke bewusstlos gewesen, vielleicht Jahre. Was immer sie aufgeweckt hatte – es konnten keine Geräusche gewesen sein, denn um sie herum war es totenstill. Das Einzige, was sie fühlte, war Finsternis und Kälte – und Schmerz. Sie lag auf dem Rücken, und irgendetwas tat schrecklich weh.
    Der Schmerz war so absolut wie die Finsternis; er schien kein Fleckchen ihrer Haut zu verschonen, keinen Muskel, keinen Nerv, keinen Körperteil, und er fraß genauso gierig an ihrer Seele wie das Gefühl von tiefster Einsamkeit. Sie ahnte, dass bald nichts mehr übrig sein würde von dieser Seele, dass bald nur noch mehr Grauen und Angst sein würden und die Gewissheit, niemals mehr wieder heil zu sein.
    Das Einzige, was sie gegen dieses Grauen und den Schmerz tun konnte, war, dagegen anzuatmen. In dem Nichts, das sie umlauerte, hatte sie alles verloren – die Erinnerung daran, was ihr zugestoßen war, ja, selbst die Erinnerung daran, wer sie war und wie sie hieß. Doch sie atmete, und das bedeutete, dass sie lebte. Und so lange sie lebte, wollte sie darum kämpfen, ihren Verstand nicht zu verlieren.
    Zu großen Sprüngen war dieser Verstand nicht mehr fähig, aber zu kleinen, winzig kleinen Schritten. Der erste Schritt war, festzustellen, dass der Schmerz nicht von ihrem ganzen Körper Besitz ergriffen hatte, sondern von einer ganz bestimmten Stelle ausging. Von ihren Füßen kam er nicht, die kribbelten nur, weil sie eingeschlafen waren. Und ihr Bauch krampfte sich zwar zusammen, als wären ihre Organe verknotet, doch das rührte von der Furcht, nicht von einer Verletzung her. Ihr Hals tat weh,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher