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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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bisschen rührte. Marians Großvater Samuel Orqual war nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt und saß in einem Rollstuhl, den irgendjemand – wahrscheinlich unter großer Anstrengung – die Tribüne hinaufgeschleppt hatte.
    Endlich hob Marian die rechte Hand und berührte die Tasten – allerdings so vorsichtig, als gelte es, sie zu streicheln. Und als er zu spielen begann, verwoben sich diese Töne zu keinerlei vertrauter Musik, schon gar nicht zu der eines Eric Satie.
    Verwirrt lauschte ich, bis er nach einer Weile seine Hand wieder zurückzog.
    »Was tut er denn da?«, entfuhr es mir.
    Das Getuschel um uns wurde lauter. Die Mitschüler, die neben der Bühne standen, grinsten und stießen sich an.
    Marian bemerkte es nicht, hob wieder die Hand und spielte wahllos ein paar Töne.
    »Das ist doch nicht das Stück, das Sie mit ihm einstudiert haben!«, stieß Susanna Orqual hervor. »Will er etwa improvisieren?«
    Das tat er liebend gern, doch nie auf die verhaltene Weise wie eben. Wenn er improvisierte, arbeitete sich Marian für gewöhnlich am Klavier regelrecht ab, haute in die Tasten, bis er schwitzte, schuf eigenwillige, interessante Melodien, die so lebendig, so ausdrucksstark klangen, dass man seine Stummheit ganz und gar vergaß. Doch anstelle einer Melodie spielte er nun immer wieder die gleichen drei Töne: E , H und G  … oder nein, er spielte sie nicht, er drückte auf die Tasten wie auf die einer Schreibmaschine, ohne jegliches System, ohne Gefühl.
    Ich wusste nicht, was ihn dazu bewog, glaubte allerdings zu ahnen, dass ihn der Auftritt überforderte, und ärgerte mich, dass die eben noch so wortgewaltige Direktorin nicht eingriff und ihn erlöste. Einige Kinder kicherten nun ungehemmt, manche Eltern tuschelten das Wort »Sonderling«, und Susanna machte sich wie ihr Enkelsohn ganz klein auf ihrem Platz, anstatt ihm zu helfen.
    Ich hingegen konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben.
    »Marian!«, rief ich. Ich wollte zu ihm auf die Bühne eilen und ihm vorschlagen, mit mir vierhändig zu spielen – in der Hoffnung, dass er seine Angst besser im Griff hätte, wenn ich, zu der er nur langsam und mühsam, aber schließlich doch Vertrauen gefasst hatte, an seiner Seite wäre.
    Doch als ich aufstand, schien mir die Sonne direkt ins Gesicht. Eben noch hatte sie gleißend gelb oben am Himmel gestanden, nun kündete der rötliche Glanz ihrer Strahlen, der die gelben Blätter bronze färbte und die weißen Berggipfel blassrosa, den Abend an. An Macht hatten sie dennoch nicht verloren. Ich wurde so stark geblendet, dass ich die Augen zusammenkniff und schützend die Hände vor mein Gesicht hob. Kurz sah ich gar nichts, nur flammendes Rot, und als ich nach einer Weile die Hände wieder sinken ließ, änderte sich schlagartig das Licht. Eine dunkle Wolke schob sich vor die Sonne; die Welt, eben noch in einen warmen Rotton getaucht, ergraute. Ein kalter Wind ließ die Temperatur binnen kürzester Zeit sinken, blähte meine Jacke und überzog meine Arme mit einer Gänsehaut.
    Nicht nur die jähe Kälte ließ mich erschaudern. Auch Marians Anblick, der immer noch gekrümmt vor dem Keybord saß und zur Seite zu kippen drohte, setzte mir zu, und noch mehr als dieser der von Aurora – Aurora, die unvermittelt einen Schritt nach vorne getreten war, dann aber erstarrt war. So abrupt, wie die dunkle Wolke die Abendröte verschluckt hatte, hatte sich ihr Gesicht verändert: Es wirkte nicht mehr braun, sondern aschfahl, der Wind zerrte an ihrem Haar, das nicht mehr rötlich, sondern fast schwarz glänzte, und in ih- ren Augen stand Angst, pure, nackte, abgrundtiefe Angst.
    Das Schlimmste für mich war jedoch nicht diese sichtbare Angst – das Schlimmste war, wie überaus durchdringend diese Augen blickten.
    Während ihr Gesicht und ihre Haare im fahlen Licht farblos anmuteten, schien das Blau ihrer Augen so stark zu leuchten, als würde ein kalter Heiligenschein ihren Kopf umgeben. Hellwach war ihr Blick – und zugleich völlig leer. Tiefkonzentriert – und zugleich wie weggetreten. Dieser … alte, wissende Ausdruck war für ein zwölfjähriges Mädchen befremdend – aber mir dennoch so vertraut. Ich kannte diesen Blick. Schon oft hatte mich Aurora so angestarrt – damals, vor fünf Jahren, als sie sich plötzlich zu verändern begonnen hatte. Als ihr Erbe erwacht war.
    Meine Lippen formten ihren Namen: »Aurora.«
    Es klang wie ein Hauch und war für sie nicht hörbar – doch wahrscheinlich hätte sie mich
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