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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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glaubte ich schon zu spüren. All das schien nicht mehr aufzuhalten.
    Doch der Schmerz blieb aus.
     
    Erst sah ich nichts als einen Schatten – dann einen Mann, der wie aus dem Nichts zu kommen schien. Er sprang auf die Tribüne, nein, schien förmlich darauf zu fliegen. Mit der einen Hand stemmte er sich gegen jenen Eisenträger, der wie schon der erste zur Seite zu knicken drohte, mit der anderen umfasste er mich an der Hüfte, hob mich hoch, als hätte ich das Gewicht einer Feder, und sprang zurück auf den Boden, so leicht und behände, als wäre nicht eine Höhe von bestimmt zwei Metern zu überwinden, sondern nur eine kleine Erhöhung. Ich stand kaum auf dem Gras, als die Mutter des Babys auf mich zugestürzt kam, es mir aus den Händen riss, es an sich drückte und sich unter Tränen wieder und wieder bedankte. Ich konnte sie kaum beachten, ich hatte nur Augen für … ihn. Nathanael Grigori. Nathan, wie ich ihn nannte. Die große Liebe meines Lebens. Erneut sprang er auf die Tribüne, elegant, leichtfüßig, gewandt, als müsse er nur eine winzige Stufe nehmen. Dann hatte er, so blitzschnell, dass ich den Bewegungen kaum folgen konnte, Samuel Orquals Rollstuhl erfasst, hob auch diesen hoch, als hätte er kein Gewicht, und setzte ihn sicher auf der Wiese ab – so behutsam, dass der kranke alte Mann nicht die geringste Erschütterung spürte. Jeder andere wäre nach dieser Anstrengung zusammengebrochen – er hingegen schob den Rollstuhl zur Seite, damit Samuel Orqual keine Splitter abbekam, und eilte zurück zur Tribüne, um noch mehr Menschen zu retten.
    Es war nicht mehr notwendig. Alle Zuschauer hatten sich inzwischen in Sicherheit gebracht – keinen Augenblick zu früh. Gerade gab der zweite Eisenträger, gegen den Nathan sich eben noch so mühelos gestemmt hatte, als wäre er ein Streichholz, endgültig nach, und die Reihen brachen in sich zusammen. Schnell war er wieder an meiner Seite, um mich zu packen und fortzuziehen, damit mich keine Holzsplitter trafen.
    »Nathan …«, stammelte ich.
    Es war Jahre her, dass ich gesehen hatte, wie er seine Fähigkeiten einsetzte, diese besonderen, diese übermenschlichen Fähigkeiten. Er war schneller, stärker und gelenkiger, als ein Mann jemals sein konnte.
    »Nathan!«
    Er zog mich an sich, und kurz verharrten wir in der Umarmung, kurz gab ich mich ganz und gar seinem warmen Körper hin, der trotz der Anstrengung weder bebte noch schwitzte, und der Erleichterung, dass alles noch einmal gutgegangen war. Ich umschlang seinen Nacken, zog sein Gesicht zu meinem, küsste ihn mit bebenden Lippen.
    »Du bist doch gekommen«, brachte ich hervor, als ich mich nach einer Weile endlich von ihm lösen konnte.
    »Ja«, murmelte er mit dieser samtigen, heiseren Stimme, die mich nach all den Jahren immer noch bis ins Mark berührte. »Ich weiß, dass wir vorsichtig sein müssen … und dass es besser ist, wenn ich mich von den Menschen fernhalte. Aber plötzlich wurde ich so unruhig, ich hatte solche Angst um dich, so, als könnte ich ahnen, was passieren würde. Und außerdem konnte ich mir Auroras Auftritt doch nicht entgehen lassen.«
    Er nahm nun meine Hände und drückte sie. So lang, so geschmeidig, so elegant waren seine Finger. Man sah ihnen an, dass sie einst meisterhaft Cello gespielt hatten, aber sie ließen nicht die Kraft ahnen, die in seinem Körper steckte.
    »Du bist gerade noch rechtzeitig gekommen«, stieß ich hervor, »Gott, was alles hätte passieren können!«
    Meine Stimme klang nun wieder fester und zitterte nicht mehr, doch ich war kaum verstummt, als mir auffiel, dass ich in eine völlige Stille hinein gesprochen hatte. Nicht nur das Knirschen und Krachen war verstummt, sondern auch die Menschen, die eben noch panisch und hektisch durcheinandergeschrien hatten. Ich ließ Nathans Hände los und fuhr herum. Susanna Orqual stand schreckensbleich über den Rollstuhl ihres Mannes gebeugt, aber alle anderen starrten auf Nathan. Man wusste, dass es seit fünf Jahren einen Mann in meinem Leben gab, aber auch, dass wir sehr zurückgezogen lebten und man ihn so gut wie nie zu Gesicht bekam. Wildeste Gerüchte machten die Runde – Vermutungen darüber, was genau er beruflich machte, warum er sich von aller Welt fernhielt, ob er Auroras Vater war und falls ja, warum er erst seit fünf Jahren mit uns zusammenlebte.
    Nun spielten all diese Fragen keine Rolle. Nun zählt nur diese eine: Wie hatte er es geschafft, die Tribüne zu stützen und sowohl mir als
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