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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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weil sie sich wohl die Seele aus dem Leib geschrien hatte, und ihre Lippen bluteten, weil irgendjemand sie geschlagen hatte, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch dieser Schmerz war nicht unerträglich. Da war Blut an ihren Händen, vielleicht stammte es von ihr, vielleicht aber auch von ihren Angreifern. Sie hatte gekratzt, das wusste sie plötzlich wieder, ja, sie hatte sie gekratzt und gebissen, um sich geschlagen und gespuckt. Aber sie hatte keine Chance gehabt. Die Angreifer waren in der Überzahl gewesen.
    Erst presste sie die blutverkrusteten Hände fest aufeinander, dann strich sie prüfend von Fingerglied zu Fingerglied. Die Haut war eiskalt, aber kein Knochen war gebrochen. Nein, der Schmerz kam nicht von ihren Händen oder Füßen oder von ihrem Bauch. Er kam vom Kopf.
    Langsam hob sie die Hand und berührte ihr Gesicht. Wieder fühlte sie Blut, schon erkaltetes, verkrustetes, und diesmal, da war sie sich sicher, war es ihr eigenes. Ihre Hand glitt höher, befühlte ihr Haar, verklebt und verfilzt. Dann ertastete sie auf dem Hinterkopf eine leichte Erhebung. Es brannte wie Feuer, und das Blut, das hervorsickerte, war nicht verkrustet, sondern warm. Der Schmerz explodierte wie ein gleißendes Licht in ihrem Kopf, ihr Magen verkrampfte sich noch mehr, sie verschränkte ihre Arme, weil es sonst nichts gab, woran sie sich hätte festhalten können. Erst nach und nach verglühte das gleißende Licht, und vom Schmerz blieb nur ein dumpfes Pochen – und der Triumph, doch schon einiges über ihre Lage herausgefunden zu haben: Sie lag im Dunkeln, es war kalt, sie hatte zu schreien und sich gegen ihre Angreifer zu wehren versucht. Daraufhin hatte man sie auf den Hinterkopf geschlagen, und sie hatte das Bewusstsein verloren.
    Das war etwas, aber nicht viel. Vor allem war es keine Antwort auf das große Warum. Warum war ihr das zugestoßen? Und wer war sie überhaupt?
    Panik kroch in ihr hoch, hektischer und verzehrender als die Kälte, verstörender und bösartiger als die Schmerzen.
    Wer bin ich?
    Und wo bin ich?
    Inmitten des dunklen Strudels erkämpfte sich ihr Verstand wieder ein kleines Stück Erkenntnis. Er war zu lahm, um ihren Namen auszuspucken, aber er brachte sie auf die Idee, nicht nur ihren Körper abzutasten, sondern den Boden unter sich.
    Der Boden fühlte sich weich an, ein Teppich lag darauf oder, nein, eine Decke, nicht weich, sondern aus rauer Kunstfaser; je länger sie darüberstrich, desto unangenehmer kribbelte es in ihren Fingerspitzen. Auf der Höhe ihrer Hüfte war die Decke feucht. Hatte sie sich in die Hose gemacht? Oder war es Blut von ihrer Kopfwunde, das bis hierher gesickert war?
    Sie entschied, das nicht weiter zu ergründen, drehte sich vorsichtig zur Seite, wieder kurz vom stechenden Schmerz bestraft, tastete sich dann, als er nachließ, nach rechts vor. Sie stieß auf etwas Hartes, klopfte dagegen und verursachte ein dumpfes Geräusch: eine Wand. Nun drehte sie sich nach links, tastete sich auch dort vor, spürte wieder die Decke aus Kunstfasern unter sich – und wieder eine Wand neben sich.
    Es war kalt und finster, sie war entführt worden und hatte Schmerzen. Und es war eng, sehr eng. Sie hob die Hand über ihren Kopf, hoffte, ins Leere zu greifen, aber stieß viel zu bald gegen Widerstand. Sie streckte die Füße aus, versuchte die Zehenspitzen kreisen zu lassen. Es war nicht möglich – auch sie stießen gegen eine Wand. Vor Schreck zog sie die Füße an sich und prompt schlug sie sich die Knie an.
    »O mein Gott«, stieß sie aus.
    Sie erkannte ihre Stimme nicht. Sie klang wie die Stimme einer Fremden. Aber die Gefühle, die sie überkamen, waren ihre eigenen, und der Verstand kam nicht länger gegen den dunklen Strudel an, verlor sich in Panik, Verzweiflung, Ohnmacht, Angst. Sie schrie, bis sie zu ersticken drohte.
    Es war kalt, es war dunkel, es war eng, sie war ganz allein; sie hatte vergessen, wer sie war – und ihre Entführer hatten sie in ein Gefängnis gesteckt, das kaum größer war als ein Sarg.
    Mit einem Schrei auf den Lippen schreckte ich hoch. Ich wusste nicht, ob ich nur im Traum geschrien hatte oder auch in Wirklichkeit – in jedem Fall hallte es in mir nach: dieser Schrei und all die Verzweiflung, Angst und Hoffnungslosigkeit. Obwohl ich das weiche Bett unter mir spürte, fühlte ich mich nicht in Sicherheit. Ich war überzeugt, dass ich gegen eine Wand stoßen würde, wenn ich mich zur Seite rollte, oder gegen eine Decke, wenn ich versuchte, mich
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