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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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Verdrängens, des Selbstschutzes viel ausgereifter. Und wie gesagt: Es war nicht unsere Entscheidung … es ist einfach so gekommen. Sie hat die letzten fünf Jahre gut überstanden. Jetzt fehlen nur noch zwei …«
    »Nur noch zwei Jahre«, wiederholte ich.
    In zwei Jahren würde Aurora vierzehn werden. Wenn bis dahin ihr Nephilim-Erbe nicht erwacht war, dann war es unumkehrbar, dass sie ein normaler Mensch bleiben würde, und alle meine Ängste wären ausgestanden. Gemessen an den letzten fünf Jahren, die wir friedlich leben durften, schien diese Zeitspanne eigentlich überschaubar – doch in diesem Augenblick kamen mir zwei Jahre wie eine Ewigkeit vor.
    »Dass wir nichts tun, um ihr Erbe zu erwecken, würden andere Nephilim gewiss nicht gutheißen«, murmelte ich, »schon gar nicht die Alten, die Nephilim der Urzeit. Du hast doch erzählt, dass sie schon früher über dein Verhalten verärgert waren, weil du dem Kampf ausgewichen bist. Was … was würde erst geschehen, wenn sie herausfänden, wie du … wie wir uns gegenüber Aurora verhalten?«
    »Bis jetzt haben sie es nicht herausgefunden. Und wenn sie mich doch noch hier aufspüren sollten, dann würde ich rechtzeitig gewarnt. Du weißt doch: Die Alten treten nie allein in Erscheinung. Sie bilden einen Rat … und leben gemeinsam. So einsam wie diese Villa liegt, würde uns so eine Gruppe alter Männer gewiss auffallen …« Er sprach nun mit leisem Spott, und obwohl ich mich von seinen Worten kaum getröstet fühlte, wollte ich nicht an noch mehr Tabus rühren.
    Ich seufzte. »Vielleicht bin ich seit dem Einsturz der Tribüne einfach nur etwas … überspannt«, murmelte ich, »vielleicht hast du recht und …«
    Ich brach ab. Ein ungewohnt heller Laut war plötzlich aus Nathans Mund erklungen. Er lächelte mich oft an, aber er lachte wenig. Nun tat er es – trotz des ernsthaften Gesprächs – aus voller Kehle.
    »Das Mädchen dort unten ist ganz sicher keine hochbegabte Nephila!«, rief er.
    Ich folgte seinem Blick, öffnete das Fenster, um mich hinauszubeugen, und musste plötzlich so schallend lachen wie Nathan. Die frische Morgenluft belebte mich – und noch mehr das, was ich dort unten sah.
    Schon in aller Frühe war Mia Arndt vorbeigekommen, um Aurora zu besuchen. Normalerweise bekam ich Aurora morgens kaum wach – an Tagen wie heute, an denen die Schule ausfiel, schon gar nicht. Aber Mia wusste, wie man sie so früh aus dem Bett bekam: Sie hatte Stelzen mitgebracht, die ihr Vater Lukas aus zwei Holzstangen angefertigt hatte, und zeigte Aurora nun, wie man darauf gehen konnte. Wie beim Jonglieren stellte Mia sich dabei sehr geschickt an. Während sie mühelos an die zehn Schritte am Stück gehen konnte, kippte Aurora stets schon nach den ersten beiden zur Seite und fiel wiederholt ins weiche Gras.
    »Was machst du denn nur?«, rief Mia eben lachend.
    »Ich kann das nicht!«, erklärte Aurora ungeduldig, und als sie sich zur Seite drehte, konnte ich sehen, wie sich ihr Gesicht missmutig runzelte.
    »Natürlich kannst du es!«, rief Mia energisch. »Du musst nur genau zusehen, wie ich es mache.«
    »Aber ich sehe doch zu, und ich kann es trotzdem nicht!«
    »Weil du schrecklich ungeschickt bist!«
    Ein grimmiger Laut entfuhr Aurora. In der Schule gehörte sie – wenn auch nicht gerade im Sportunterricht – immer zu den Klassenbesten und war daran gewöhnt, alles zu können. Doch nun hatte sie diese Freundin, die so vieles besser konnte: einen Handstand machen, ein Rad schlagen, jonglieren – und eben auf Stelzen gehen. Dieses Erlebnis, schlechter zu sein, verstörte sie – aber spornte sie zugleich dazu an, über ihre Grenzen zu gehen.
    »Mia tut ihr gut«, meinte Nathan.
    »Ja«, sagte ich rasch, »ich bin wirklich froh, dass Herr Arndt mit ihr hierhergezogen ist und die beiden sich angefreundet haben.«
    »Wir könnten die beiden heute zum Abendessen einladen«, schlug Nathan unvermittelt vor. »Aurora wäre sicher begeistert, und du hast doch gesagt, dass Lukas Arndt einen sehr sympathischen Eindruck macht.«
    Ich bewunderte ihn in der Tat dafür, dass er nach dem Tod seiner Frau seine Tochter allein großzog, und noch mehr, dass er so pragmatisch klang, wenn er darüber sprach. Dennoch blickte ich Nathan nun verwundert an.
    »Zum Abendessen?«, fragte ich. »Du sagst doch immer, wir sollten uns von anderen Leuten fernhalten! Und es ist noch nie gutgegangen, wenn wir Besuch hatten.«
    »Der einzige Besuch, den wir in den letzten
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