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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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und hätte sogar kurzfristig in einer Klinik wegen seiner Wahnvorstellungen behandelt werden müssen.
    »Weil er von den Nephilim erzählt hat«, warf ich ein.
    »Es scheint so«, sagte Cara. »In jedem Fall hatte er sich wieder beruhigt, und sobald er die Klinik wieder verlassen konnte, hat er Mia mehr oder weniger entführt. Ihre Großeltern haben keine juristischen Schritte gegen ihn eingeleitet, um ihrer Enkeltochter nicht zu schaden. Und sie waren überzeugt davon, dass Mia trotz allem zu Lukas gehört und es bei ihm gut haben würde.« Cara machte eine kurze, bedeutungsvolle Pause, um nicht aussprechen zu müssen, dass sich Mias Großeltern geirrt hatten.
    Ja, dachte ich, ohne Zweifel hat Lukas Mia geliebt. Aber nicht genug, um von seinen Rachegelüsten abzulassen. Nicht genug, um sie aus der ganzen Sache herauszuhalten.
    »Mias Großeltern wollten sofort losfahren, aber ich habe ihnen gesagt, dass wir nicht so lange warten können. Eine Tante von Mia, Mathildas Schwester, wird sie stattdessen abholen. Sie lebt in München – und sitzt schon im Auto.«
    »Gut«, murmelte ich, »zumindest so lange müssen wir noch hierbleiben.«
    Cara seufzte – aber sie widersprach nicht.
    Es waren drei Stunden vergangen, als ein Auto vorfuhr. Aurora hatte lange auf Mia eingeredet und sie so weit beruhigt, dass sie nicht länger ihre Knie umkrampfte und später sogar bereit war, aufzustehen und etwas zu essen. Von den Butterbroten brachte sie zwar nur ein halbes hinunter, aber wenigstens trank sie ein ganzes Glas Milch. Aurora nahm nichts zu sich, ich hingegen zwang mich, ein paar Bissen zu essen.
    Als wir den Wagen hörten, wollte ich aufspringen, aber Cara war schneller als ich und stellte sich vor mich. »Ich mache das«, erklärte sie. Auch Aurora wollte sich nicht nehmen lassen, ihre Freundin selbst hinauszubringen und sich dort von ihr zu verabschieden.
    Ich erfuhr nicht, was Cara zu Mias Tante gesagt und wie Aurora sich von ihrer Freundin verabschiedet hatte, aber wenig später fuhr das Auto wieder ab. Als sie wieder hereinkamen, konnte ich in ihren Gesichtern nichts lesen.
    »Nun können auch wir aufbrechen«, sagte Cara, und Aurora nickte.
     
    Die erste Wegstrecke verbrachten wir schweigend. Jeder von uns war in seine Gedanken versunken – und nahm Abschied von der vertrauten Landschaft und von dem vertrauten Leben. Wie erstarrt nahm ich wahr, dass wir die Berge immer weiter hinter uns ließen und auch den See, in dessen Schwarz sie sich bis zuletzt gespiegelt hatten. Es fiel mir schwer, mir eine Zukunft in Paris vorzustellen. Irgendwann vor langer Zeit war ich einmal dort gewesen – damals ging ich noch zur Schule, und wir hatten im Rahmen des Französischunterrichts eine einwöchige Exkursion nach Frankreich unternommen. Nele war dabei gewesen – und hatte sich schrecklich über die verdreckten Duschen in unserem bescheidenen Quartier nahe der Kirche Saint-Lazare beschwert. Ansonsten hatten wir viel gelacht, wenn ich heute auch nicht mehr wusste, worüber. Louvre, Eiffelturm, Centre Pompidou, Montmartre … natürlich hatten die unvermeidbaren Klassiker auf dem Besichtigungsprogramm gestanden, aber am deutlichsten erinnerte ich mich daran, dass Nele sich am letzten Tag in einen jungen Franzosen verliebt hatte – oder zumindest überzeugt war, dass sie sich verliebt habe. Schließlich war sie mit dem Unbekannten nur zwei Stationen mit der gleichen Metro gefahren.
    Ach, Nele …, seufzte ich innerlich.
    Ob ich sie jemals wiedersehen würde? Was würde sie denken, wenn sie erfuhr, dass ich Hallstatt einfach verlassen hatte? Wahrscheinlich war sie schrecklich wütend auf mich, weil ich gestern einfach ihren Anruf weggedrückt hatte und seitdem nicht mehr erreichbar gewesen war.
    Nun konnte ich wieder mit ihr telefonieren, konnte versuchen, es ihr zu erklären – nicht nur, warum ich mit Aurora nicht nach Salzburg gekommen war, sondern warum wir das Land verließen … doch wenn ich ehrlich war, hatte ich keine große Hoffnung, dass sie mich verstehen würde. Schon damals, vor fünf Jahren, hatte sie nicht verstanden, in was ich hineingeraten war. Letztlich war unsere Freundschaft daran zerbrochen – an dem Geheimnis, das ich vor ihr hütete und das auch in Zukunft eine tiefe Kluft zwischen uns reißen würde.
    Erneut konnte ich ein Seufzen nicht unterdrücken, die Wehmut, die in mir aufstieg, das Heimweh, das mich überkam, obwohl wir Hallstatt gerade erst verlassen hatten.
    Doch da löste sich Nathans Hand
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