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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman
Autoren: Leah Cohn
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vom Lenkrad, griff nach meiner und drückte sie fest. Den Abschiedsschmerz und die Zukunftsängste konnte er mir nicht nehmen – aber er konnte mir mit dieser simplen Geste deutlich machen, dass es auch vieles gab, wofür ich dankbar sein konnte. Wir hatten alle Gefahren überstanden. Nathan und Aurora waren sich um so vieles nähergekommen. Und Cara war wieder bei uns und verströmte mit ihrer besonnenen Art so viel Ruhe und Zuversicht wie einst.
    Vieles hatte sich verändert – aber nicht alles: Ich war immer noch mit den Menschen vereint, die ich am meisten liebte. Ich hatte Aurora. Und ich hatte Nathan. Und ich wusste plötzlich: Ich konnte mich jeder Herausforderung stellen, solange ich mit ihnen zusammen war.
    Die Sonne ging unter, als sie die vertraute Landschaft endgültig zurückließen. Von Hallstatt aus waren sie Richtung Salzburg gefahren und von dort weiter nach München. Je länger es nach Nordwesten ging, desto flacher wurde das Land, die Berge schrumpften zu Hügeln, das Tageslicht versickerte in grauer Dämmerung. Aurora starrte durch das Fenster, doch wenn man sie gefragt hätte, was sie sah – sie hätte es nicht gewusst. Sie fühlte sich nicht müde oder erschöpft, eher wie betäubt. Es war, als wäre sie in Watte gepackt, die alle Gefühle und Gedanken mit ihrer weichen Umarmung erstickte.
    Nur ein Gedanke ließ sie nicht los. Immer wieder vermeinte sie jenen Satz zu hören, der in ihr hochgestiegen war, als sie den Kampf der Nephilim verhindert hatte: Deine Gabe ist kein Geschenk, sie ist eine Bürde.
    In dem Augenblick hatte ihr das vor allem Angst gemacht – Angst, jene fremde Macht würde im entscheidenden Augenblick nachlassen oder umgekehrt so stark werden, dass sie sie nicht mehr kontrollieren konnte.
    Jetzt war da keine Angst mehr, aber Schmerz. Sie versuchte sich ein Leben in einem fremden Land und unter fremden Menschen vorzustellen, ein Leben ohne Mia, ohne ihre Schulklasse, ohne die vertraute Villa in Hallstatt, aber es gelang ihr nicht.
    Diese Gabe oder dieser Fluch … Es war nicht länger nur eine Last, die sie zu tragen hatte, es war vor allem ein Verlust. Wie sollte sie ihn ertragen? Wie damit leben?
    Sie atmete tief durch. Noch immer fühlte sie sich wie in Watte gepackt, nur dass diese Watte nicht länger weich war, sondern schwer, kalt und rau wie das Kettenhemd eines mittelalterlichen Kriegers.
    »Aurora …«
    Zumindest diese Stimme war nicht kalt. Cara sprach zu ihr. Aurora wandte sich vom Fenster ab, sah, wie ihre Mutter und ihr Vater sich gegenseitig festhielten und wie nun auch Caras Hand nach ihrer tastete, sie umklammerte, sie drückte.
    Das Kettenhemd fiel von ihr ab. Sie atmete befreiter, das Herz begann aufgeregt zu pochen.
    Ja, ihre Macht war eine Bürde, und irgendwann würde sie sie alleine tragen müssen. Aber jetzt noch nicht. Jetzt hatte sie ihre Eltern an ihrer Seite und Cara, die frühere Vertraute und künftige Lehrmeisterin. Sie würde ihr dabei helfen, das Beste aus ihren Fähigkeiten zu machen und jene große Nephila zu werden, die in ihr steckte.
    Ehe er von der Nacht verschluckt wurde, schickte der glühende Himmelskörper einen letzten Gruß. Das Sonnenlicht blendete sie noch einmal, bevor es von grauen Wolkenbergen verschluckt wurde. Ein Hauch von Rot war da noch, doch schon färbte er sich kupferfarben, ging dann in ein schwächliches Rosé über und wurde schließlich vom Nachtblau übermalt.
    Aurora drückte Caras Hand fester.
    Ich bin nicht allein, dachte sie immer wieder, ich bin nicht allein …

Epilog
    »Du bist ein Schwächling.«
    Claudius von Kranichstein musterte seinen Sohn verächtlich. In manchem glichen sie sich – in manchem nicht. Caspars Hände waren dünn und fein, wohingegen die von Claudius riesigen Pranken glichen. War Caspars Haut bleich, fast wächsern, war Claudius’ grobschlächtiges Gesicht rot aufgedunsen und um das Kinn ein wenig schlaff geworden. Die Augen hingegen waren ebenso schwarz und kalt wie die Caspars, als sie ihn musterten. Caspar erwiderte den vorwurfsvollen Blick halb herausfordernd, halb ängstlich.
    »Du hast mir gar nichts mehr zu sagen«, sagte er schließlich zischelnd. »Die Zeiten sind vorbei, da du mich bestrafen kannst, wenn ich deiner Meinung nach wieder einmal versagt habe.«
    Claudius hob drohend die Pranken: »Ach, tatsächlich?«, fragte er.
    Unwillkürlich wich Caspar zurück, doch sobald er sich wieder gefasst hatte, straffte er trotzig seine Schultern. »Wenn du mich schlägst,
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