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Der Fliegende Holländer

Der Fliegende Holländer

Titel: Der Fliegende Holländer
Autoren: Tom Holt
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Bürotür öffnete sich langsam. Schuldbewußt verdrückte sich Jane blitzschnell und stieß dabei mit dem Schienbein gegen einen Couchtisch, auf dem ein altes Jagdmagazin lag, das bereits überall Eselsohren hatte. Sie nahm die Zeitschrift, flüchtete damit auf ihr Zimmer und las sie Seite für Seite durch, bis sie schließlich einschlief und von einem menschenfressenden Frettchen träumte.
     
    »Ich sehe was, was du nicht siehst, und das fängt mit M an«, sagte der erste Maat.
    Niemand beachtete ihn. Selbst Jan Christian Duysberg, der vierunddreißig Jahre alt werden mußte, um festzustellen, daß er Linkshänder war, hatte die Auflösung schon in den vierziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts erraten.
    Eine Möwe schwebte am Himmel, verharrte plötzlich in der Luft, drehte in einer engen Kurve ab und flog gen Südosten davon. Cornelius Schumaker schnitt sich im Schatten des Mastes in aller Ruhe die Zehennägel. Wilhelm Triegaart vervollständigte gerade sein siebenundneunzigstes Kreuzworträtsel auf dieser Reise.
    Für einige der Besatzungsmitglieder des Segelschiffs Verdomde (das holländische Wort für ›verdammt‹) war das zweite Jahr der jeweils siebenjährigen Zeitspanne immer das schlimmste. So, wie sich Jane Doland häufig am Dienstag hundsmiserabel fühlte, weil die Erinnerung an die kurzfristig gewonnene Freiheit des vergangenen Wochenendes bereits verblaßt war und der nächste Freitag noch in weiter Ferne lag, verhielt es sich mit der gereizten Art Vanderdeckers, das Kommando zu führen. Andere fanden sich einfach damit ab, jedes Jahr so zu nehmen, wie es kam – Pieter Pretorius zum Beispiel bastelte ein maßstabgetreues Modell der Schlacht von Lepanto in einer leeren Coca-Cola-Flasche, während sein Bruder Dirk an die Grenzen der Mathematik stieß, indem er ausrechnete, welche Überstundenbezahlung er einfordern konnte, sobald die Reise einmal ein Ende hätte. Die übrigen Besatzungsmitglieder dachten lediglich bis zur nächsten Wache. Der einzige Mensch auf dem Schiff, der sich zu diesem Zeitpunkt wenigstens ansatzweise den Kopf darüber zerbrach, was man gegen den Schlamassel unternehmen konnte, in dem sie alle steckten, war der Kapitän selbst.
    Kapitän Vanderdecker war ein begeisterter Leser der Zeitschrift Scientific American. Er saß in seiner Kajüte, die Füße auf dem Kartentisch und auf den Knien eine verhältnismäßig aktuelle Ausgabe dieses Magazins. Er versuchte gerade, eine schwierige Zahl im Kopf zu dividieren, während er sich gleichzeitig vergeblich bemühte, den Solarrechner durch heftiges Schütteln wieder in Gang zu setzen. Eine wichtige Zahl, die etwas mit der Halbwertszeit von Radium zu tun hatte, drohte ihm aus Ermangelung der Quadratwurzel von siebenundvierzig zu entwischen, und wenn sie ihm diesesmal entfiel, könnte es Wochen dauern, bis er wieder darauf kam. An die Tatsache, daß Zeit praktisch keine Rolle spielte, mochte er lieber nicht denken, da er fürchtete, sonst endgültig aufzugeben. Mit demselben lächerlichen Optimismus, mit dem sich eine achtzigjährige Frau das Haar färben läßt, zwang sich Vanderdecker künstlich zur Eile.
    Seit 1945 hatte sich Vanderdecker immens für radioaktive Strahlung interessiert. Seine anfänglich etwas übersteigerten Hoffnungen waren allerdings rasch zerschlagen worden, als er und seine Mannschaft einen der ersten Atomtests im Pazifik miterlebt und sie danach etwa eine Woche lang im Dunkeln lediglich schwach geglüht hatten. Dennoch hielt er mit bedingungslosem, fast blindem Vertrauen daran fest, seit er mehr oder weniger zur Aufgabe seiner gewagten Theorien über die Auswirkungen von Vulkanausbrüchen gezwungen worden war. Deswegen war er aber noch lange kein Befürworter der Atomkraft, dazu hatte er bereits viel zuviel darüber gelesen. Für den Rest der Menschheit schien ihm diese Entwicklung ein Schritt in die falsche Richtung zu sein, der wahrscheinlich in einer Katastrophe enden würde. Für ihn und seine Mannschaft bedeutete radioaktive Strahlung allerdings einen winzigen Hoffnungsschimmer, und er konnte es sich einfach nicht leisten, irgend etwas auf diesem Gebiet zu übersehen, bevor er nicht sämtliche in Betracht kommenden Möglichkeiten ausgeschöpft hatte.
    Also las Vanderdecker weiter, wobei er nur hin und wieder durch das Knatschen der Takelage oder das gelegentlich auftretende dumpfe Krachen gestört wurde, sobald sich Sebastian van Doorning wieder einmal von der Mastspitze aufs Deck fallen ließ. 1964 hatte
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