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Der Fliegende Holländer

Der Fliegende Holländer

Titel: Der Fliegende Holländer
Autoren: Tom Holt
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dessen Felsblock machen. Man kann in schillernden Worten darstellen – ganz besonders, wenn man Fernsehevangelist ist –, was mit allen jenen unzuchttreibenden und falsch Zeugnis ablegenden Sündern geschehen wird, sobald sie am Jüngsten Tag dem Allmächtigen Auge in Auge gegenüberstehen. Solange man allerdings nur mit Menschen- oder selbst mit Engelszungen spricht, kann man nicht einmal ansatzweise die außerordentlichen Qualen beschreiben, die man erleidet, wenn man in der Absteige einer geschlossenen Stadt gefangen ist und nur noch die Wahl hat, in einem Wartehäuschen eine Busladung aufgedunsener Ostdeutscher mit vollgepißter Unterwäsche zu betrachten oder einen Krimi zu lesen, bei dem man sich an die Handlung bis ins letzte Detail erinnern kann.
    Die normalerweise ruhig und gelassen wirkende Jane Doland wurde von rasender Wut ergriffen. Sie zog sich die Strumpfhose wieder an, nahm den Zimmerschlüssel und begab sich in den düsteren Flur. Unten – was mit grausamer Ironie als Aufenthaltsraum bezeichnet wurde – lag vielleicht eine Tageszeitung von letzter Woche oder die Juli-Ausgabe von Woman and Home aus dem Jahre 1956. Möglicherweise könnte sie dort auch ein logisch aufgebautes Telefonbuch entdecken oder sogar eine ausrangierte Streichholzschachtel mit einem Rätsel auf der Rückseite. Solange man am Leben ist, gibt es auch Hoffnung; das Schlagen des Herzens und die Tätigkeit der Lungen sind nicht nur geeignete Ablenkungsmanöver, sie lassen einem auch alle Möglichkeiten offen.
    Zufällig entdeckte Jane wirklich eine Streichholzschachtel, auf der aber nur ›Made in Finland – Inhalt etwa 40 Zündhölzer‹ – stand, und nach dem dritten Lesen konnte sie diesen Worten nichts mehr abgewinnen. Deprimiert begab sie sich zur Rezeption. Durch den hellen Spalt über der Bürotür drang die schrille Stimme eines Fernsehkommentators, der gerade jubelnd verkündete, daß Kevin Bradford aus Cark-in-Cartmel es geschafft habe, ausnahmsweise einmal nicht als letzter durchs Ziel zu kommen. Jane blickte auf den Tresen und entdeckte das Gästebuch. Die Rettung! Endlich etwas zu lesen.
    Es handelte sich um ein faszinierendes Dokument. Zum Beispiel erfuhr Jane, daß im November 1986 Mr. und Mrs. Belmont aus Winnipeg drei Nächte im Union Hotel verbracht hatten. Verdächtig war allerdings, daß sie zwar jedesmal im Hotel gefrühstückt, aber nicht ein einziges Mal zu Abend gegessen hatten.
    Wie konnte das angehen? fragte sich Jane. Hatten die beiden womöglich ihren letzten Cent für den Flug ausgegeben und Leib und Seele während ihres Aufenthalts allein durch Toast und portionierte Marmelade zusammenhalten müssen? Oder verbrachten sie damals ihre Abende damit, vom Casino ins nächste Restaurant und wieder ins Casino zu gehen, weil sie die Hausmannskost des Union Hotels verschmähten? Vielleicht gefiel ihnen aber auch einfach nur der Anblick der Speisekarte nicht, was Jane durchaus nachempfinden konnte. Und was hatte diese weltreisenden Belmonts um die halbe Erdkugel bis nach Bridport getrieben und sie aus ihrem behaglichen Fachwerkhaus zwischen wogenden Weizenfeldern hierher an die aufgepeitschte See mit seiner unermeßlichen Weite verschlagen? Waren sie hinter einer Erbschaft her, oder wollten sie einem sterbenden Verwandten die letzte Ehre erweisen und eine zwanzig Jahre währende Familienfehde am Totenbett beilegen? Hatten sie dieses ruhelose Verlangen verspürt, das schon Odysseus immer wieder dazu getrieben hatte, Städte aufzusuchen und die Gedanken der Menschen kennenzulernen, oder waren sie am Flughafen einfach nur in den falschen Bus gestiegen?
    Was Jane außerdem feststellte und nur allzugut glauben konnte, war die Tatsache, daß im Union Hotel nur wenige Gäste abstiegen, zumindest nicht genug, um ein solch optimistisch dickes Gästebuch in kurzer Zeit zu füllen. Dieses Register reichte neun Jahre zurück, als sich ein Mr. J. Vanderdecker aus Antwerpen für zwei Nächte eingetragen hatte. Wie ihr auffiel, hatte sich ein anderer J. Vanderdecker (oder derselbe Mann, nur ein bißchen älter und weiser) sieben Jahre später eingetragen. Zwar war er bei keiner der beiden Gelegenheiten das Risiko des Abendessens eingegangen, hatte aber jedesmal auf ein Zimmer mit Bad bestanden. Nach Janes Dafürhalten ein schüchterner, in sich gekehrter Mensch, der lieber sterben würde, als sich von Fremden dabei beobachten zu lassen, wie er morgens um halb sieben mit Bademantel und Latschen durch den Flur ging.
    Die
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