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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach
Autoren: Isabella Nadolny
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    «Wenn wir», sagte mein Bruder Leo, «jeden Sommer zu viert auf Sommerfrische gehen, so kostet das pro Jahr... Wartet mal.» Er griff nach einem Blatt Papier und fragte mich über die Schulter: «Wie lange dauern deine Ferien eigentlich?»
    Ich gab mürrisch Auskunft. Gegen die Autorität eines um elf Jahre älteren Bruders war nichts auszurichten.
    «Und zwei Jahre mußt du doch noch zur Schule gehen — ist sowieso wenig genug», murmelte er, «zweimal Ferien à sechs Wochen. Also das macht...» Er blinzelte gegen den Rauch seiner Zigarette und rechnete. «Da ist es viel billiger, wir bauen uns ein Sommerhaus.»
    Er strich die Zahlen durch und begann einen Grundriß zu zeichnen.
    Wir saßen im Eßzimmer, Mama in dem Sessel unter ihrem Porträt, so daß man prüfen konnte, ob es ähnlich genug war. Nur drei der vielen Porträts, die von Mama gemalt worden waren, hatten in unserer Wohnung Platz gefunden, einer großen, altmodischen Wohnung mit hochherrschaftlichen Stuckdecken.
    «Ein Sommerhaus», sagte Mama und drehte mit gedankenvoll gerunzelter Stirn an ihrem Ring, «ein Sommerhaus wäre fein. Man könnte einen Hund dort halten!»
    Hunde und Pferde waren vielleicht das einzige, was Mama seit jenem Tage entbehrt hatte, als sie neunzehnjährig das Schloß ihrer Ahnen verließ, um zu heiraten. Hätte sie, der Pferde und Hunde wegen, damals den ungarischen Offizier genommen, der sie so glühend verehrte, so wäre ich heute schwarzhaarig und braunäugig, was ich mir immer gewünscht habe. Sie verzichtete jedoch auf die Pferde und Hunde und heiratete Papa. Das ist zu verstehen. Papa war reizend, hochmusikalisch und ungewöhnlich sprachbegabt, wenn auch etwas schüchtern. In seinem Paß stand als Berufsbezeichnung «Kaufmann», ein dehnbarer Begriff, der nichts besagte, außer daß Papa Geld genug besaß, um nur gelegentliche weite Geschäftsreisen unternehmen zu müssen, und zwar von Moskau aus, wo er und seine ganze Verwandtschaft lebten. Mama zog mit ihm nach Rußland. Nach ein paar Jahren äußerte Papa den ungewöhnlichen Wunsch, Rußland zu verlassen und ausgerechnet in München malen zu lernen. Nichts hinderte ihn, auch Mama nicht. Sie war nicht einmal verblüfft, sondern packte ihre Koffer, nahm den kleinen Leo, die russische Kinderfrau, fuhr nach Bayern und suchte sich mit Papa eine Wohnung in Schwabing. Eine hochherrschaftliche Wohnung mit Stuckdecken. Papa lernte malen, Mama, die bildschön war, wurde gemalt, und beide besuchten mit Erfolg die legendären Künstlerfeste jener Zeit, die man im Simplicissimus älterer Jahrgänge beschrieben und abgebildet findet.
    Als der Weltkrieg vorüber war und die alljährlichen Rußlandreisen zur Familie für immer aufhörten, kam ich zur Welt. Und just um diese Zeit begannen auch die ersten Vermögensschwierigkeiten und die ersten Sorgen. Papa malte weiter, ihm war es lieb, von den leidigen Geldangelegenheiten nicht zu sprechen und alles damit Zusammenhängende zu ignorieren. Von Mamas Gefühlen und Erwägungen ist nichts bekannt, sie war eine echte Dame und ließ sich nichts anmerken. Nun zum erstenmal seit Jahren sahen wir die Hoffnung auf einen Hund zugleich mit dem Gedanken an ein Sommerhaus in ihrem Auge aufleuchten.
    Bruder Leo zeichnete noch immer. Jetzt ergriff er ein Lineal und zog eine Linie. «Wie viele Zimmer brauchen wir denn?» fragte er.
    «Bloß nicht zu viele», sagte Mama, die sich seit langem in der Wohnung mit einem Mädchen behelfen mußte.
    Papa saß am Schreibtisch und legte eine Patience. Er hatte noch den Malmantel an, mit dem er aus dem Atelier gekommen war, und an seinem Hosenbein klebte ein wenig Preußischblau. Er hatte Schwierigkeiten beim Durchzeichnen einer Birkengruppe in einem Abendhimmel und durfte sich eine Pause gönnen. Rein zufällig geriet er in das allgemeine Sinnen und Trachten. «Hinter dem Haus muß ein Tisch stehen, auf dem man die Fische schuppen kann, die ich fange», sagte er und forschte mit zusammengepreßten Lippen nach, wo die Pique-Zehn hingehörte.
    Ich hatte die letzten fünf Minuten am Flügel herumgelungert, wie eben ein Backfisch lungert, der noch unfähig ist, schlicht und frei im Raum zu stehen. Nun warf ich mich in den großen Gobelinsessel und flocht Zöpfchen in die Fransen. Das ganze Projekt interessierte mich recht wenig. Es war nicht anzunehmen, daß ausgerechnet in diesem geplanten Sommerhaus Willy Fritsch unser Nachbar würde, oder daß mich dort jemand für Hollywood entdeckte. Der Ort des
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