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Der Fliegende Holländer

Der Fliegende Holländer

Titel: Der Fliegende Holländer
Autoren: Tom Holt
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in der Werbebroschüre gelesen, die ihr vor ihrer Einstellung zugeschickt worden war, und allein die Erinnerung daran weckte bei ihr stets das vehemente Gefühl absoluter Teilnahmslosigkeit. Merkwürdigerweise gab sich die Broschüre bezüglich der Lebensgeschichte des alten Berwick äußerst bedeckt und konzentrierte sich lieber auf dessen etwas schneidigeren Kollegen. Jane fragte sich immer wieder, wo Mr. Berwick sich wohl an den Haaren herausgezogen haben mochte – wahrscheinlich aus dem Londoner Nobelstadtteil Harrow.
    Vor etwa einem Jahr hatten die Verfasser dieses Werbeprospekts für eine aktualisierte Neuauflage mit sämtlichen Angestellten Interviews geführt, in deren Verlauf auch Jane nach ihrer unmaßgeblichen Meinung gefragt worden war, welche Tätigkeit in dieser Firma ihrem Leben die meiste Befriedigung und Erfüllung verschaffe. Ohne Zögern hatte sie geantwortet: »Nach Hause zu gehen«, und so kam sie weder in der Broschüre noch in dem Video vor, obwohl sie sich selbst rühmte, die schönsten Beine in ihrer Abteilung zu haben. Da die restlichen Beine ihren männlichen Kollegen Mr. Shaw, Mr. Peterson, Mr. Ferrara und Mr. Timson gehörten, handelte es sich hierbei auf seiten Janes nicht etwa um übertriebene Eitelkeit, sondern vielmehr um kompromißlose Genauigkeit und einen unnachgiebigen Hang zur Wahrheit, durch die sich eine korrekte Buchhalterin gegenüber ihren sonstigen Zeitgenossen auszeichnet.
    Seit damals behielt Jane ihre Meinung über den von ihr gewählten Beruf ausschließlich für sich; sobald sie allerdings allein war, ließ sie zur Kompensation ihren Gefühlen freien Lauf, und so erging es ihr auch an diesem kalten Montagabend in Bridport.
    Nur wenige aufregende Ereignisse lassen sich mit dem ersten Abend in einer fremden Stadt vergleichen. Obwohl Jane entsetzlich müde war und einen unwiderstehlichen Drang verspürte, sich die Strumpfhose auszuziehen und sich eine Folge von ›Cagney und Lacey‹ anzusehen – wenngleich es nur einen tragbaren Schwarz-Weiß-Fernseher in ihrem Zimmer gab –, verließ sie das Union Hotel, um sich Hals über Kopf in das Nachtleben der Stadt zu stürzen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, möglicherweise nie wieder hierherzukommen, und wollte deshalb diese einmalige Chance voll auskosten und nach jeder reifen Frucht greifen, die sich ihr bot und sie dann langsam im Munde zergehen lassen, bis sich ihr Appetit in einen süßen Sinnenrausch verwandeln würde.
    Als sie endlich das Kino gefunden hatte, war es wie immer in der zweiten Septemberhälfte geschlossen. Da sie keine Lust hatte, vergewaltigt, ausgeraubt oder ermordet zu werden, ging sie auch nicht ins White Hart, Blue Ball, Bunch of Grapes, Prince of Wales, Peacock, Catherine Whell, Green Dragon, Four Horseshoes, Hour Glass, Half Way House, Bird in Hand, Bottle and Glass, Jolly Sportsman, Dorsetshire Yeoman, Boot and Slipper, Rising Sun, Crown and Cushion, Poulteney Arms, Red Cross Knight, Two Brewers, Black Dog, Temporary Sign, Duke of Rochester, Gardeners Arms und erst recht nicht in den Mississippi Riverboat Night Club. Außer diesen Lokalen verblieb als einzige öffentlich zugängliche Vergnügungsstätte das Wartehäuschen an der Bushaltestelle, das allerdings nach Janes Geschmack bereits etwas zu voll war. Also ging sie ins Union Hotel zurück und nahm dort ein Glas Orangensaft und eine frisch zubereitete einheimische Spezialität zu sich, die nach dem hoteleigenen Linoleumbelag mit Soße schmeckte. Danach begab sie sich nach oben auf ihr Zimmer, um sich wenigstens die letzten zehn Minuten von ›Cagney und Lacey‹ ansehen zu können, doch leider war die Serie zugunsten einer Live-Übertragung des Züricher Leichtathletik-Sportfestes kurzfristig abgesetzt worden.
    Was für ein Glück, daß ich mir wenigstens ein gutes Buch eingepackt hab, tröstete sich Jane. Das einzige, was mich jetzt noch am Lesen dieses Buches hindern könnte, wäre, daß die Betreiber dieser Leichenhalle vergessen haben, einen Schilling in den Stromzähler zu werfen. Sie holte das Buch aus ihrem Koffer hervor, schlug es an der Stelle auf, wo ihre abgelaufene Monatskarte als Lesezeichen steckte, und begann zu lesen.
    Das ist nicht das richtige Buch, sagte sie sich, als ihr Blick auf die zerknitterte Seite fiel. Das hier hab ich erst gestern zu Ende gelesen.
    Jeder Mensch kann schildern, welche Höllenqualen er im Leben schon erlitten hat, oder kann, wenn er den Drang dazu verspürt, auch eine Anspielung auf Sisyphus und
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