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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien
Autoren: Andreas Altmann
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ATLANTIK
    Flug über Grönland. Ich sitze Gangseite. Als ich den Kopf nach rechts drehe, landet mein Gesicht im Hintern eines Dicken. Um einem zweiten Dicken auszuweichen, war der erste dicke Hintern – siehe enge Serpentinen im Hochgebirge – ganz offensichtlich auf der Suche nach einer Ausweichstelle.
    Das ist ein zauberhafter Anfang für eine Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika. Blitzartig und grinsend ziehe ich meine Nase zurück. Andere grinsen auch. Sofort wissen wir, wo wir in ein paar Stunden ankommen werden: in Amerika, dem Land, in dem laut Statistik über eine Milliarde Kilo Speckschwarten zuviel existieren. Ich stelle meine Augen auf Weitwinkel um. Nur so, will ich mir einbilden, darf man sich diesem Kontinent nähern. Längst habe ich begriffen, dass Dünne auf einer so riesigen Fläche nichts verloren haben. Hier tragen sie XXL , nur sie passen.
    Mein Nasenstupser in einen heftig gespannten Hosenboden macht mich wach. Sekunden später erinnere ich mich eines lautlosen, überwältigenden Vorfalls in der Zona Rosa, einem Stadtteil von Mexico City. Der Ort liegt dreitausend Meilen von unserem Zielflughafen JFK entfernt. Und dennoch, das dortige Erlebnis war der jetzigen Situation so ähnlich. Ich verließ eine Bank und trat hinaus auf die Calle Hamburgo. Wo normalerweise geräuschvoller Betrieb herrscht, war es seltsam still, ja heilig still. Männer und Frauen eilten aus ihren Läden und blieben mit offenem Mund davor stehen. Der Grund ihres maßlosen Erstaunens war unübersehbar: Eine junge, leicht bekleidete Frau mit knapp sitzenden Shorts, Fotoapparat und Beinen aus einer anderen Welt promenierte an ihnen vorbei. Ich mag mich verschätzen, aber allein ihr Unterleib brachte es auf hundertfünfzig Kilo. Ihr Fleisch schwabbelte, es war zu kraftlos, zu degeneriert, um noch irgendeine Konsistenz aufzuweisen. Speckringe kringelten sich in zweifacher Ausführung um ihre Fußgelenke. Unbekümmert unterhielt sie sich mit ihrem Begleiter. Sie sprach Englisch mit amerikanischem Akzent.
    Nicht die drei Zentner nacktes Fett machten uns sprachlos. Es war die Nonchalance, die Mühelosigkeit, mit der dieser Mensch sein Schwergewicht vor aller Welt ausbreitete. Ich glaube, wir bewunderten beide: sie, die Frau, und sie, die Amerikaner. Seliges Volk, einziges Volk wohl, das sich so aufzutreten traut. Was für betuliche Bedenkenträger wir übrigen Nicht-Amerikaner sind. Wer von uns würde wagen, zweihundert bare Pfund Oberschenkel in hautenge Hot Pants zu zwängen und damit beschwingt spazieren zu gehen? Derlei auseinanderquellende Mitmenschen würden in Europa in einer Intensivstation versteckt werden oder als Zirkusnummer durch die Provinz tingeln.
    Neben mir sitzt Ajit, ein schmaler Afghane, der nun Gemüse in Brooklyn verkauft. Als der Dicke sich in mein Gesicht drückte, lächelte er verschämt. Jetzt, eine halbe Stunde später, sagt er wie als Entschuldigung für seine heitere Schadenfreude: » You know what? America is a freak show .« Das ist ein schlauer Satz, gerade dann, wenn man das Wort » freak « in seiner ursprünglichen Bedeutung versteht: Anomalie. Ein freak of nature ist eine Laune der Natur. Lauter Launen der Natur, lauter freakige, monströse Widersprüche, die bis jetzt noch jeden Europäer überforderten. Wer hier durchreist, macht eine Bestandsaufnahme. Vom Fassen der Ungetümer keine Spur.
    Nehmen wir die 1,2 Milliarden Kilo Menschenspeck. Ich ging in Paris an Bord mit einem gerade erschienenen Buch der amerikanischen Autorin Joan Jacob Brumberg. Titel: The Body Project . Darin beschreibt sie den zähen Kampf amerikanischer Teenager, noch magersüchtiger, noch spindeldürrer aufzutreten als alle anderen Spindeldürren. Das Bodybuilding-Studio als Büßerzelle, der Körper als Schlachtfeld, die Seele als ein Hort gnadenloser Selbstjustiz: Ich bin nicht schlank, also bin ich nichts. Nebenbei wird das Land von Cindy Crawfords Forever slim -Videos überschwemmt, scheint ein gewaltiger Prozentsatz von Männern und Frauen besessen von Kim-Basinger-Brüsten, lassen sich Millionen Dickhäuter von einer Pharmaindustrie terrorisieren, die auch Todesfälle nicht aufhalten, den Markt mit gesundheitsruinösen Abmagerungs-Tabletten zu versorgen.
    Nach dem Ende des Films im Bordkino fällt mir zum ersten Mal auf, dass in amerikanischen Filmen kaum Dicke vorkommen. Klar: Die schönen Schlanken spielen und die Dicken schauen zu.
    Bewundernswertes Amerika. Alle Widersprüche scheint es zu schlucken.
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