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Der Feuerstein

Der Feuerstein

Titel: Der Feuerstein
Autoren: Rae Carson
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der Rückseite, fast versteckt. Eine weitere Einbuchtung, direkt in der Mitte.
    Natürlich. Ein lebender Feuerstein sollte die heilige Zahl der Vollendung vervollständigen. Mein Feuerstein.
    Ich reiße die Schärpe von meinen Hüften, ziehe den Saum meiner Bluse hoch und halte ihn mit den Zähnen fest. Der Feuerstein strahlt mir entgegen, und ich zucke zusammen. Im Stein ist ein Wirbel aus Licht. Nein, es sind Tausende von winzigen Lichtern, von weiß bis mitternachtsblau, die in einem zähen, glitzernden Mahlstrom dahinschweben.
    Entschlossen drücke ich Roldáns hässlichen Anhänger gegen meinen Bauch. Alle Muskeln in meinem Körper spannen sich an, als er einrastet. Der Animagus, der Ximena festgehalten hat, stößt sie zu Boden und kommt auf mich zu, die Augen auf das Amulett gerichtet. Er streckt die Hände danach aus.
    »Nein!«, schreit Alejandro. Er reißt sich aus dem Griff des anderen Hexenmeisters los, springt dem entgegen, der auf
mich zukommt, und zieht einen Dolch aus dem Stiefel, den er dem Animagus in den Rücken rammt.
    Die beiden anderen heben ihre Amulette dem König entgegen, Licht strömt heraus und dringt in seinen Körper. Alejandro bricht zusammen und schreit vor Schmerz.
    »Papá!«, kreischt Rosario.
    Und dann fängt mein Amulett an, sich wie ein Rad um die Achse meines Nabels zu drehen.
    Mein ganzer Körper bebt. Der Mahlstrom aus Licht, der aus meinem Feuerstein dringt, umgibt mich jetzt vollständig, wirbelnd, schrecklich und schön. Meine Haut atmet die Energie der Erde, der Luft, die mich umgibt, und füttert meinen lebenden Feuerstein damit.
    So viel Macht! Ich keuche und zittere. Das alles ist zu mächtig für meine Haut, viel zu kraftvoll, als dass ich es festhalten könnte. Ich werde in Stücke zerspringen, wenn ich nicht bald etwas tue. Das Amulett dreht sich schneller und schneller.
    Instinktiv tue ich das, was ich unbewusst seit Monaten trainiert habe: Ich bete, inbrünstiger und verzweifelter denn je.
    Lieber allmächtiger Gott, bitte gib meine Feinde in meine Hand.
    Der Mahlstrom aus Licht verdichtet sich zu einer festen Kugel, einer kleinen blauen Sonne, die vor meinem Nabel schwebt. Ich lege meine Hände darunter. Obwohl die Luft um mich herum knistert, fühlt sich die Kugel in meinen Handflächen kühl an. Ganz leicht hebe ich sie an und richte sie auf die Animagi.
    Worte strömen aus meinem Mund, ohne dass ich wüsste, woher sie kommen. »Mein Gott ist bei mir, ich schwanke
und wanke nicht. Mein Gott ist bei mir, seine Kraft ist in mir.«
    Die Animagi starren mich voller Entsetzen an. Mir wird bewusst, dass ich in der Lengua Classica zitiere. Den Fluss der Worte vermag ich nicht aufzuhalten, und meine Stimme wird stärker. »Ich werde über meine Feinde triumphieren. Sie werden in alle Himmelsrichtungen zerstreut, und Gottes rechtschaffene rechte Hand wird ewig sein!«
    Die Lichtkugel dreht sich wild. Mein ganzer Körper bebt vor Energie. Jetzt schreie ich.
    »Ich bin Gottes rechtschaffene rechte Hand! Und ich – werde – nicht – schwanken – und – wanken.«
    Damit spreize ich die Beine breit und werfe die winzige wirbelnde Sonne hoch über meinen Kopf.
    Einen kurzen Augenblick schwebt sie unter der Gewölbedecke, dreht sich schneller und schneller und sprüht Funken in alle Richtungen.
    Ein enormer Donnerschlag erschüttert die Welt, als die Kugel explodiert. Wie eine Welle brechen Hitze und schimmernde Luft daraus hervor. Mein Haar wird mir aus dem Gesicht geweht, mein Rock gegen meine Beine gepresst. Fensterscheiben zerspringen, und Glassplitter regnen auf mich herab.
    Die Animagi schreien. Mit Entsetzen und Erleichterung sehe ich, wie sie schrumpfen, vertrocknen und sich in schwarzen Staub verwandeln.
    Und dann bin ich plötzlich leer. Kraftlos. Wie die Spreu, die nach dem Dreschen übrig bleibt. Eine leere Hülle.
    Meine Knie können mein Gewicht nicht länger tragen. Während ich zu Boden sinke, löst sich das Amulett von meinem
Nabel, rutscht klappernd über die Fliesen und landet unter meinem Bett.
    Ich liege auf der Seite, die Wange auf meinen Schaffellteppich gepresst, die Augen fallen mir zu. Das Amulett flackert noch einmal auf und verlischt dann. Ich folge ihm in selige Dunkelheit.

34

    A ls ich erwache, strömt die Sonne grell über meine Augenlider.
    »Elisa?« Über mir bewegt sich ein Kopf. Ich blinzele hastig, aber mein Verstand klammert sich am Schlaf fest. »Elisa! Ihr seid wach.«
    »Rosario?«
    »Ximena! Sie ist wach!«
    Noch ein Kopf.
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