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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel
Autoren: Polina Daschkowa
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Michejew nickte. »Setz mal deine Brille auf. Und sieh dir unseren Gast an.«
    Der Alte holte eine Brille aus der Tasche, setzte sie auf, wandte sich Sergej zu und musterte ihn mit kleinen, kurzsichtigen
     Augen durchdringend. Wieder wurde es still im Raum. Die Lippen des Alten bewegten sich, er murmelte etwas vor sich hin, erst
     lautlos, dann immer lauter, als drehe jemand am Lautstärkeregler.
    »Dreckskerl! Hack ihm die Nase ab bis zu den Eiern, Palytsch, sonst kann ich mich nicht beherrschen und beiß ihm die Kehle
     durch, dem elenden Wurm.« Der Alte kam auf Sergej zu.
    »Ganz ruhig, Fisch, ganz ruhig«, gebot ihm Michejew Einhalt. »Weißt du, er hat wieder das Gedächtnis verloren. Erzähl ihm
     erst mal alles, was du mir damals im Lager erzählt hast, als wir beide im Krankenhaus lagen und am Krepieren waren.«
    Der Alte, noch immer keuchend und mit den Augen funkelnd, setzte sich auf den Rand eines Sessels Sergej gegenüber.
    »Du erinnerst dich also nicht, nein? Na schön, hör zu. In der Nacht damals war ich auf der Baustelle, Kabel klauen. Da seh
     ich zwei Leute von der Bahnstation kommen. Ich mich zwischen den Platten versteckt, ganz still, hab kaum geatmet. Ich hatte
     die Baustelle voll im Blick. Der Scheinwerfer brannte ja, da wars taghell. Mascha hab ich gleich erkannt. Sie lief ganz schnell,
     und du hinterher. Sie sagt zu dir: ›Hau ab, Gerassimow, verschwinde.‹ Du hast gebettelt und gejammert, so und so, ich kann
     ohne dich nicht leben, ich bin extra hergekommen, obwohl ich krank bin und Fieber hab, lass uns zu mir fahren, es ist niemand
     zu Hause, nur meine alte Kinderfrau, und die ist stocktaub, pfeif auf die anderen. Darauf sie: ›Kapierst du nicht, Gerassimow?
     Du gehst mir auf den Geist mit deinem Fieber! Lass mich inRuhe, du dummer Affe.‹ Sie war gerade kurz vor der Baugrube, und du hast dich auf sie gestürzt, sie bei den Schultern gepackt,
     geschüttelt und gebrüllt, das soll sie ja nicht noch mal sagen, von wegen dummer Affe. Da hat sie dir ins Gesicht gelacht
     und noch dreimal gesagt: ›Gerassimow, du bist ein dummer Affe!‹ Sie wollt sich von dir losreißen, und du hast sie geschubst,
     ziemlich heftig. Sie ist zur Baugrube geflogen und direkt rein. Ich hab einen dumpfen Aufprall gehört und einen furchtbaren
     Schrei. Du bist an den Rand der Grube und hast reingesehn. Vielleicht eine Minute lang, dann bist du abgehaun, zur Bahnstation.
     Ich bin hin, hab gesehn, sie liegt da und zuckt, als ob sie Stromschläge kriegt.« Der Alte kniff die Augen zusammen und schüttelte
     den Kopf. »Ich hab sie doch von klein auf gekannt, schon, als sie hier im Kinderwagen rumgefahren wurde. Ich bin runter in
     die Grube, ich wusste nicht, was ich tat. Erst wollt ich das Eisending aus ihr rausziehn, ich hab dran gezerrt und begriffen
     – nein, das wird nichts. Es war ein Moniereisen, das ragte aus einer Platte. Ich hab versucht, sie runterzuheben, aber das
     ging auch nicht. Wie lange ich mich mit ihr abgemüht hab, weiß ich nicht. Irgendwann kam ich zur Besinnung; ich war selber
     voller Blut. Und ihr war sowieso nicht mehr zu helfen. Sie war schon so gut wie tot. Ich sag, verzeih mir, Mascha, ich bin
     schließlich vorbestraft, die sperren mich sofort ein. Da kommt Palytsch angerannt, das heißt, damals noch Juri Michejew. Ich
     konnt mich gerade noch verstecken. Weg konnt ich nicht, ich dachte: Vielleicht wird sie ja noch gerettet? Er hat geschrien,
     ist hin und her gerannt, hat Hilfe geholt, kam zurück mit mehreren Leuten, ist wieder runter zu ihr und hat die ganze Zeit
     ihren Kopf gehalten, als hätte sie noch irgendwas gefühlt. Na ja, der Rest ist klar – allgemeine Aufregung, Bullen. Ich hab
     mich natürlich still verdrückt, aber dann hab ich diese Sünde lange mit mir rumgeschleppt. Als ich erfahren hab, werverurteilt wurde, wollte ich sogar zu den Bullen und erzählen, was ich gesehen hab. Aber was war ich schon für ein Zeuge?
     Die hätten mir nicht geglaubt, so viel war sicher, und mich obendrein noch eingesperrt. Ich war schließlich zum Klauen in
     der Grube. Und später traf ich Juri, das heißt Palytsch, im Lagerkrankenhaus, im Bett neben mir.«
    Der Alte verstummte. Man hörte nur seinen schweren, heiseren Atem. Er sah Sergej nicht mehr an. Seine Augen huschten unruhig
     über den Tisch.
    »Nein, Fisch.« Michejew schüttelte den Kopf. »Morgens kriegst du noch nichts. Hier, trink Milch und iss was.«
    »Aber wieso denn?« Der Alte schluchzte und schniefte.
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