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Der falsche Engel

Der falsche Engel

Titel: Der falsche Engel
Autoren: Polina Daschkowa
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»Einen Schluck auf Mascha, ja? Gieß mir was ein, Palytsch, meine Seele
     brennt wie Feuer.«
    »Schluss, Alter, geh und ruh dich aus.«
    Der Wachmann fasste Fisch behutsam unter und führte ihn nach draußen. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sah Sergej
     an.
    »Ich hab viel Scheiße gesehn im Leben, aber so einen wie dich kein zweites Mal, das sag ich dir.«
    Als er weg war, trat Stille ein. Draußen zwitscherten die Morgenvögel. Lautlos trat der Wachmann zum Hausherrn und reichte
     ihm etwas, nicht größer als eine Streichholzschachtel. Michejew warf sie Sergej zu. Der konnte das kleine Ding gerade noch
     auffangen. Es war eine Kassette.
    »Das soll Gerassimow sich anhören«, sagte Michejew spöttisch. »Vielleicht hilft das ja seinem Gedächtnis auf die Sprünge.
     Wenn er in den nächsten zwei Tagen kein freimütiges Geständnis schreibt und zur Staatsanwaltschaft bringt, stirbt er. Wir
     haben es satt, ihn zu überreden. Auf Irina warten in Frankreich Mann und Kind, und ich hab viel zu tun. Wir haben uns lange
     genug mit ihm abgegeben.«
    »Wozu brauchst du sein Geständnis?«, fragte Sergej leise.»Die Sache ist verjährt, und außerdem war es sowieso kein Mord, sondern fahrlässige Tötung. Maximal zwei Jahre.«
    »Ich will rehabilitiert werden. Die letzten drei Jahre im Lager hab ich jede Nacht von der Begegnung mit ihm geträumt. Ich
     wollte ihm in die Augen sehen und ihn dann töten. Als ich rauskam, hab ich fünf Jahre lang einfach nur beobachtet, wie er
     lebt. Ich hätte ihn hundertmal umbringen können, aber die Sache war mir zu wichtig, und ich hab mir Zeit gelassen. Dieses
     Jahr im März kam Irina mich besuchen und meinte, ich dürfe mich nicht so lange quälen. Entweder, ich handelte gleich, oder
     ich solle das Ganze vergessen und ihn in Ruhe lassen. Da schickte ich ihm meine Leute mit der Sprengladung. Sie hätten ihn
     daran gehindert, ins Auto zu steigen, aber es wäre vor seinen Augen in die Luft geflogen. Es lief dann ein bisschen anders,
     doch das war auch nicht schlecht. Später, als Irina mir erzählte, wie er sich im Fitnessclub verhalten hat, der Klub gehört
     übrigens mir, also, als sie mir erzählte, wie er sich da geschafft hat und wie seine Augen hin und her gerirrt sind, da hab
     ich begriffen, was ich von ihm will: Ein Geständnis. Ja, Juri Michejew ist tot. Doch er war kein Mörder. Aber Stas Gerassimow
     ist ein Mörder. Und das muss bekannt werden, vor allem ihm selbst.«
    »Juri Michejew ist natürlich kein Mörder«, sagte Sergej langsam, »aber Palytsch hat den Chauffeur Georgi töten lassen.«
    »Um Palytsch gehts jetzt überhaupt nicht.« Michejew schüttelte den Kopf. »Und was Georgi Sawjalow angeht, der hat sich seine
     Kugel redlich verdient, als er im Lager die Männer mit dem Kopf ins Klobecken tauchte und sie jeden Morgen bei vierzig Grad
     minus barfuß, nur in Unterhosen, Frühsport machen ließ. Außerdem hat er mich gesehen und hätte mich womöglich identifizieren
     können.« Michejew goss sich noch einmal Milch ein, leerte das Glas in einemZug und wischte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Wenn du Stas in den nächsten zwei Tagen nicht dazu bringst, ein freimütiges
     Geständnis zu schreiben, ist er ein toter Mann. Und keiner, weder sein Generalspapa noch du, Major, und eure ganze ehrenwerte
     Organisation kann ihn davor schützen. Glaubst du mir das?«
    Sergej nickte. »Das glaube ich dir.«
    Am Tor gab ihm der schweigsame Riese seine Pistole zurück und schüttete ihm die Patronen auf die Hand.
     
    Heiße, zottige Schatten krochen über die Zimmerdecke, die Augen fühlten sich heiß an, als brenne in jedem eine Kerze. Feuchtes
     Holz knackte im Ofen, der Qualm blieb in der Kehle stecken und ließ den kleinen Wladimir nicht atmen. Der Lindenblütentee,
     den die Großmutter ihm zu trinken gab, schmeckte furchtbar bitter. Das Gesicht der Großmutter, die sich zu ihm herabbeugte,
     erschien ihm wie ein Schatten im Qualm. Wladimir hörte das Wasser aus dem Spender in die Schüssel platschen und sah ein schwammiges
     weißrosa Ungeheuer mit riesigen Glasaugen direkt auf sich zukommen; es streckte die Hand nach ihm aus, packte ihn mit harten
     Fingern, wiederholte mehrmals ein schwieriges, zähflüssiges Wort: Pneumonie, und löste sich im Qualm auf.
    Nur ein dünner, schwacher Laut drang in das dumpfe, qualmtrübe Nichts, wie ein lebendiger, leuchtender Faden, und Wladimir
     tastete sich langsam aus der Finsternis heraus.
    Später
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