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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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Witwe!« Noël lachte bitter. »Einen Monsieur Gerdy hat es nie gegeben. Ich gelte als unehelich.«
    Â»Ist deshalb Ihre Verbindung mit Mademoiselle Lervernois immer wieder hinausgeschoben worden?«
    Â»Aus eben diesem Grund. Madame Gerdy war die Geliebte des Grafen Commarin. Als er sie verließ, entlohnte er sie mit dreihunderttausend Francs.«
    Fast hätte Vater Tabaret vergessen, Anteilnahme an dem widrigen Geschick des Freundes zu zeigen; so sehr schmeichelte es seinem Stolz, dem Hintergrund des Verbrechens so nahe gekommen zu sein. Doch er besann sich noch und sagte: »Mein lieber Junge, vielleicht kann ich Ihnen der beste Ratgeber sein. Zur Sache: Haben Sie denn auch Beweise für die Geschichte?«
    Â»Ich weiß die Wahrheit seit drei Wochen, und ich habe sie durch einen Zufall entdeckt. Doch so schwerwiegend meine Beweise sind, sie stützen sich im wesentlichen auf Vermutungen. Ein einziges Wort von Madame Lerouge hätte mein Material unanfechtbar machen können. Aber dieses Wort wird nun nie mehr ausgesprochen. Sie hat es mir zwar gesagt, doch was nützt es? Ich kenne Madame Gerdy, sie wird um nichts in der Welt die Wahrheit gestehen. Und auch mein Vater würde mir nicht helfen, mein Recht zu erlangen. Also habe ich nichts davon, daß ich meiner Sache sicher bin. Der Mord hat mir jede Möglichkeit des Beweises aus der Hand geschlagen.«
    Â»Erklären Sie mir alles in Ruhe.«
    Â»Als ich vor drei Wochen in Madame Gerdys Schreibtisch nach alten Papieren suchte und dabei versehentlich eine Schublade zu weit herauszog, fiel ein Bündel Briefe in meine Hand. Fast automatisch löste ich die Schnur und las einen Brief.«
    Â»Das durften Sie nicht«, sagte Tabaret streng.
    Â»Ich weiß. Jedenfalls las ich. Schon nach den ersten Zeilen hatte ich die Gewißheit: Das war die Korrespondenz mit meinem Vater, dessen Namen mir Madame Gerdy trotz allen Bittens bisher verheimlicht hatte. Erregt las ich nun alle Briefe.«
    Â»Sind sie noch in Ihrem Besitz?«
    Â»Hier habe ich sie, und ich werde sie Ihnen vorlesen, damit Sie sich ein Bild machen können. Schließlich habe ich Sie, einen Freund, um Rat gefragt. Alles Nebensächliche will ich auslassen und Sie nur mit dem bekannt machen, was wichtig ist.«
    Tabaret war aufs äußerste gespannt, als der Anwalt mit ein wenig zitternder Stimme zu lesen begann: »Meine geliebte Valerie ... Valerie, das ist Madame Gerdy«, unterbrach er sich.
    Â»Ich weiß«, sagte Tabaret. »Fahren Sie fort.«
    Â»Du weißt nicht, wie glücklich ich war, als ich heute Deinen lieben Brief bekam. Ich habe ihn geküßt und immer und immer wieder gelesen. Ja, es hat so sein müssen, der Himmel mußte unsere Liebe belohnen: Wir werden ein Kind haben, ein Abbild meiner geliebten Valerie! Noch nie so wie jetzt habe ich die Verbindung verflucht, in die mich meine hartherzigen Eltern gezwungen haben, und meine Abscheu vor der Frau, die meinen Namen trägt, kennt keine Grenzen. Und gerade jetzt trägt auch sie ein Kind von mir unterm Herzen! Mir fehlen die Worte, um Dir das Chaos meiner Gefühle begreiflich zu machen, wenn ich mir den Lebensweg dieser beiden Kinder vor Augen führe. Das Kind, das meiner innigsten Liebe entsprossen ist, wird meinen Namen nicht tragen können, wird weder Vater noch Familie haben. Doch das Kind der anderen, die ich verabscheue, es wird allein durch seine Geburt vermögend, adlig und in einer Umgebung aufwachsen, die ihm eine angesehene Stellung in der Gesellschaft garantiert. Eine furchtbare Ungerechtigkeit! Ich kann sie nicht ertragen! Ich werde einen Weg finden, das zu ändern.«
    Â»Wann und wo ist der Brief geschrieben?« fragte Tabaret.
    Â»Venedig, im Dezember achtzehnhundertachtundzwanzig.« Der Anwalt wurde nun sachlich und fuhr fort: »Einige Briefe, die ohne besonderen Belang sind, übergehe ich und lese Ihnen ein paar wichtige Stellen aus einem Schreiben vom dreiundzwanzigsten Januar achtzehnhundertneunundzwanzig vor. Auch von ihm interessiert das meiste in unserem Zusammenhang nicht, aber zwei Stellen beweisen, daß sich der Gedanke, der im ersten Brief angedeutet war, weiterentwickelt hatte.« Und Noël las vor: »Ein Verhängnis, meine liebe Valerie, hält mich an diesem Ort fest; aber meine Seele ist bei Dir. Mein Denken kreist nur um unser Glück und so weiter und so weiter ... Meine Abscheu vor meiner Frau, der
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