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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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ist ein Schreiben, das der Graf an Madame Gerdy gerichtet hat, als er eines Tages in den Tuilerien unabkömmlich war. Er hat das Papier des Königs benützt: Liebste Valerie! Soeben meldet mir Germain, daß die Amme unseres Sohnes eingetroffen ist und daß sie sich bei Dir vorstellen wird. Durch reichliche Zuwendungen ist sie von uns völlig abhängig, und sie hält sich an die Absprache, daß Du von allem nichts weißt. Die Verantwortung für die Tat trage ich allein. Die Amme stammt aus der Normandie; sie ist auf unseren Gütern geboren und mit einem achtbaren Matrosen verheiratet. Sie heißt Claudine Lerouge.«
    Recherchen über das Vorleben der Witwe Lerouge erübrigten sich nun. Tabaret brummte zufrieden: »Na also!«
    Â»Dieses ist der letzte Brief des Grafen Commarin«, sagte Noël.
    Â»Mehr Material haben Sie nicht?« fragte Tabaret enttäuscht.
    Â»Nur noch ein paar Zeilen, die viele Jahre später geschrieben sind. Ihr Wert ist aber mehr theoretischer Natur.« Nach einer Pause fuhr Noël fort: »Was würden Sie mir raten, wenn mit dem, was ich Ihnen vorgelesen habe, mein Beweismaterial erschöpft wäre?«
    Nach längerem Überlegen antwortete Tabaret: »Sie können nicht der Sohn von Madame Gerdy sein.«
    Â»Sie hätten doch so gehandelt wie ich«, fragte Noël eifrig, »nachdem Sie mit diesen Briefen bekannt geworden wären? Ich habe Claudine nämlich aufgesucht und befragt. Sie hat sofort alles zugegeben, weil ihr Gewissen sie noch immer plagte. Und aus ihrer Gewissensnot heraus versprach sie mir, das ganze finstere Geschehen zu bezeugen, wenn ich meine Rechte geltend machen würde. Jetzt bleibt mir nur noch eine Hoffnung: daß die Briefe gefunden werden, die Claudine vom Grafen und von Madame Gerdy besaß. Ich habe sie gelesen, und Claudine hätte sie mir gegeben; aber ich Narr habe sie nicht genommen.« Niemand wußte besser als Vater Tabaret, wie gering diese Hoffnung war. Denn um diese Briefe aus der Welt zu schaffen, war der Mord verübt worden. Der Mörder hatte sie in dem kleinen Ofen verbrannt.
    Â»Mich erstaunt nur«, sagte Tabaret, »daß der Graf sich nicht um Ihre Zukunft gekümmert hat.«
    Â»Er hat sein Verhältnis zu Madame Gerdy schon vor langer Zeit gelöst, und das aus guten Gründen. Sie hat ihn betrogen, und als er ihr auf die Schliche kam, hat er sie davongejagt.«
    Noël suchte unter den Papieren und sagte, als er einen Brief hervorzog: »Das ist das letzte Schreiben des Grafen. In ihm steht kein Wort mehr von der ›liebsten Valerie‹. Hören Sie: Ich habe dem Freund, der mir die Augen geöffnet hat, zunächst mißtraut, weil ich an Dich glaubte. Jetzt ist jeder Zweifel ausgeschlossen: Du bist beobachtet worden. Ich habe Dir mehr als mein Leben geschenkt. Du hintergehst mich seit langem. Woher soll ich nun wissen, daß ich der Vater Deines Sohnes bin?«
    Â»Sie haben recht, lieber Noël!« rief Tabaret. »Der Graf ist schwer bestraft worden.«
    Â»Natürlich hat Madame Gerdy sich brieflich zu rechtfertigen versucht«, erklärte Noël weiter. »Der Graf sandte ihr das Schreiben ungeöffnet zurück. Dann wollte sie eine Begegnung mit ihm herbeiführen. Der Versuch blieb vergebens. Als ihr der Graf ein Legat von fünfzehntausend Francs im Jahr aussetzte, wußte sie, was die Glocke geschlagen hatte. Ihr Sohn war nun endgültig an meinem Platz, ich war um meine Stellung betrogen!«
    Ein Klopfen unterbrach die Unterredung, gleichzeitig ließ sich die Stimme des Dienstmädchens vernehmen: »Monsieur, Madame verlangt nach Ihnen.«
    Widerstrebend und nach einigem Zögern stand Noël auf und verließ den Raum.
    Das muß für den armen Kerl ein schwerer Schock sein, dachte Tabaret. Naiv, wie er ist, merkt er nicht einmal, wer diesen Anschlag gegen ihn verübt hat. Aber ich weiß Bescheid. Jetzt liegt alles ganz klar vor mir. Jeder Dummkopf könnte jetzt ahnen, wer die Tat begangen hat, damit eine Mitwisserin aus der Welt kommt. Seltsam, daß Noël, ohne es zu wissen, nun bei der Aufklärung eines schweren Verbrechens mithilft! Aber ich brauche Beweise. Mir genügte es, nur einen dieser Briefe einen Tag lang in Händen zu haben. Ob er sie gezählt hat? Ich könnte ihn ja um einen bitten; aber dann müßte ich offenbaren, daß ich mit der Polizei zusammenarbeite, und das
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