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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge
Autoren: Èmile Gabroriau
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zu stehen, daß sie nah dem Meer gelebt hatte; denn sie sprach viel von Seeleuten und der Seefahrt. Ihr Mann, sagte sie, sei auf dem Meer geblieben; doch sprach sie nur selten und, wie es schien, ungern von ihm.
    Sie galt als wohlhabend, leistete sich gutes Essen und Wein, den sie in erstaunlichen Mengen kaufte. Sie führte ein gastfreies Haus, und mehrmals hörte man sie sagen, daß sie habe, was sie brauche, auch wenn sie nicht Land oder Häuser besitze, und jederzeit mehr haben könne, wenn sie nur wolle. Ansonsten blieb ihr früheres Leben im dunkeln.
    Abends, wenn sie ihr Haus verbarrikadiert hatte, gab sie sich, das war bekannt, dem Weingenuß hin und ging bald darauf zu Bett. Fremde hatte man kaum je bei ihr gesehen, einige Male eine Dame in Begleitung eines jungen Mannes und einmal einen älteren, ordensgeschmückten Herrn, der mit einem jüngeren, vornehm aussehenden in einer Prunkkutsche angekommen war.
    Die Tote schien in keinem sehr guten Ruf zu stehen, und die Begründung, mit der sie einmal die ernsthaften Werbungen eines Fleischers ausgeschlagen, hatte ihr Renommee nicht erhöht: Eine Ehe sei ihr genug. Und überhaupt sollte sie oft seltsame Reden geführt haben. Zwei Männer, die sie ab und an besuchten und von denen der jüngere wie ein Bahnarbeiter aussah und der andere, sehr viel ältere und größere eine graue Bluse und einen gewaltigen braunen Backenbart trug und von furchterregendem Aussehen war, galten als ihre Liebhaber.
    Der Untersuchungsrichter aus Paris traf mit dem Chef der Detektivabteilung und einem Detektiv ein, als der Kommissar all dies zusammengetragen hatte.
    Monsieur Daburon, der Untersuchungsrichter, ein Mann von knapp vierzig Jahren, sah vornehm und freundlich drein, wenn auch ein Schatten von Melancholie über seinem Gesicht lag. Seit drei Jahren übte er sein Amt aus und galt als ein geduldiger, genauer und scharfsinniger Beamter. Ein Fall mit einem unbekannten Täter war genau nach seinem Geschmack, da er ihm Gelegenheit bot, seinem ungewöhnlichen Scharfsinn die Zügel schießen zu lassen, bis er unbedeutende Einzelheiten zu einem Mosaik von Beweisen zusammengefügt hatte. Dennoch war er dem eigenen Urteil gegenüber sehr mißtrauisch, und er machte von seinen Befugnissen nur sehr zurückhaltend Gebrauch. Er liebte die großen Gesten nicht, mit denen manche seiner Kollegen Verbrechen aufzuklären suchten, war fair gegenüber den verdächtigen Personen und würde ihnen nie eine Falle gestellt haben. Schon die Möglichkeit, einem Justizirrtum Vorschub leisten zu können, war ihm ein Alptraum, weshalb er sich nicht mit der eigenen Überzeugung begnügte, sondern Gewißheit haben mußte. So ruhte er nicht, bis der Beschuldigte angesichts der Beweise seine Schuld eingestand.
    Der Chef der Detektivabteilung war der berühmte Gevrol, ein fähiger, origineller Mann ohne Ausdauer, der nie einen Irrtum zugab. Dabei war er mutig und besonnen zugleich und von ungeheurer körperlicher Kraft, so daß er keinen noch so gefährlichen Verbrecher zu fürchten brauchte. Sein großer Vorzug aber bestand darin, daß er ein phänomenales Personengedächtnis besaß, dem sich jedes Gesicht sofort einprägte, wobei er besonderen Wert auf Form, Größe, Farbe und Ausdruck der Augen legte.
    Gevrol wurde von Lecoq begleitet, einem ehemaligen, inzwischen mit dem Gesetz ausgesöhnten Verbrecher, der ein gerissener, fröhlicher Kerl war. Nur von den Fähigkeiten seines Vorgesetzten hielt er nichts und war im geheimen eifersüchtig auf Gevrol.
    Der Kommissar, froh, aus der Verantwortung entlassen zu sein, unterbreitete den Herren aus Paris die Resultate seiner Untersuchungen.
    Â»Ausgezeichnete Arbeit, Monsieur«, sagte Daburon, »doch haben Sie vergessen herauszufinden, wann Madame Lerouge zuletzt gesehen worden ist.«
    Â»Gerade davon wollte ich Ihnen berichten, Monsieur! Es war am Karnevalsdienstag, zwanzig nach fünf. Sie war mit einem Korb auf dem Rückweg von ihren Einkäufen in Bougival.«
    Â»Und Sie sind sicher, daß die Zeit stimmt?« fragte Gevrol.
    Â»Zwei Zeugen, eine Frau mit Namen Tellier und ein Küfer, stiegen aus der Postkutsche, als sie die Witwe an der Straßenkreuzung sahen. Sie gingen mit ihr ins Dorf und unterhielten sich mit ihr.«
    Daran, was Madame Lerouge im Korb hatte, konnten sich die Zeugen nicht genau erinnern. Sie hatten nur
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