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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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er, wie Geds Kopf sich ihm leicht zuwandte, und vernahm seine Stimme: »Er sagt, steigt auf!«
    Arren erstarrte. Das war reiner Wahnsinn. Doch vor ihm lag die Riesenkralle, wie eine Treppe ging es hinauf: über den Fuß, den Ellenbogen, die mächtige Schulter und die Muskulatur der Schwingen, die sich am Schulterblatt abzeichnete: vier Stufen waren es, wie eine Treppe. Und dort, zwischen den Flügeln und der ersten großen Zacke des Rückgrates war eine Vertiefung, gerade groß genug für einen oder auch zwei Menschen, die verrückt genug waren, dort Schutz suchen zu wollen, die alle Hoffnung aufgegeben und die nichts mehr zu verlieren hatten.
    »Steigt auf!« befahl Kalessin in der Ursprache.
    Und Arren stand auf und half seinem Gefährten auf die Füße. Ged hielt den Kopf hoch und mit Arrens Hilfe, der seinen Arm um ihn geschlungen hatte, stieg er die seltsamen Stufen empor. Beide ließen sie sich rittlings auf dem rauhen Panzer in der Vertiefung des Drachenhalses nieder. Arren saß hinter Ged, bereit, ihn abzufangen, falls es nötig sein sollte. Beide fühlten, wie dort, wo sie den Körper des Drachen berührten, eine Wärme auf sie überströmte, willkommen wie das wärmende Sonnenlicht: Feuriges Leben loderte unter dem eisernen Panzer.
    Arren fiel ein, daß sie den Erlenstab des Magiers, der halb versteckt im Sand lag, vergessen hatten; die Wellen krochen immer höher und würden ihn hinausspülen. Er war schon im Begriff, hinunterzuklettern, um ihn zu holen, doch Ged hielt ihn zurück. »Laß ihn liegen. Ich habe meine ganze Kunst an der Trockenen Quelle verausgabt, Lebannen. Jetzt bin ich kein Magier mehr.«
    Kalessin wandte den Kopf und blickte sie von der Seite her an: in seinen Augen lag ein uraltes, weises Lachen. Es war ungewiß, ob Kalessin weiblich oder männlich war, man konnte auch nicht sagen, was er dachte. Langsam hob er seine Schwingen und streckte sie aus. Sie waren nicht golden, wie Orm Embars Flügel, sondern rot, dunkelrot, so rot wie Rost oder Blut, so rot wie die purpurne Seide von Lorbanery. Vorsichtig hob er sie in die Höhe, um seine winzigen Reiter nicht aus dem Sattel zu werfen. Vorsichtig setzte er seine mächtigen Hinterbeine zum Sprung, und dann sprang er mit einem Satz, federnd wie eine Katze, in die Luft, seine Flügel schlugen abwärts, und sie erhoben sich über den Nebel, der Selidor bedeckte.
    Mit seinen roten Schwingen in mächtigen Schlägen die Luft zerteilend, flog Kalessin in den Abend hinein, kreiste, wandte sich gen Osten und flog davon. Hochsommer lag über der Insel Ully. Ein Drache flog niedrig darüber hin. Später wurde er in Usidero und im nördlichen Ontuego gesichtet. Obgleich Drachen im Westbereich nur allzu gut bekannt waren und mit Recht gefürchtet wurden, sagten die Dorfbewohner, die ihn gesehen hatten, nachdem alle aus ihren Verstecken herausgekrochen waren: »Vielleicht sind die Drachen doch nicht alle tot, wie man angenommen hat. Vielleicht sind die Zauberer auch nicht alle tot. Es war doch ein herrlicher Anblick, wie er so über die Insel flog. Vielleicht war er der Älteste.«
    Niemand sah, wo Kalessin landete. Auf diesen weitab gelegenen Inseln gibt es Wälder und unbekannte Hügel, wo nur selten Menschen hinkommen und wo selbst Drachen ungesehen landen können.
    Doch auf den Neunzig Inseln entstanden großes Geschrei und viel Aufregung. Viele Leute ruderten zwischen den kleinen Inseln nach Westen und schrien: »Versteckt euch! Versteckt euch! Der Drache von Pendor bricht sein Versprechen! Der Erzmagier ist verschwunden, und jetzt kommt der Drache, um uns zu verschlingen!«
    Doch die gewaltige eisenfarbene Echse flog majestätisch ihre Bahn, ohne zu landen, ja ohne auch nur einen Blick auf die Verschreckten zu werfen. Kalessin flog über die kleinen Inseln, Städte und Bauernhäuser, und das Volk dort unten ließ ihn ungerührt, die Menschen waren ihm zu unbedeutend, um auch nur einen feurigen Atemzug über ihnen auszustoßen. So flog er über Geath und über Serd, überquerte die Meeresstraßen des Innenmeeres und näherte sich Rok.
    Kein Drache hatte seit unvordenklichen Zeiten den sichtbaren und unsichtbaren Wällen der wohlgeschützten Insel getrotzt, nur in den allerältesten Legenden findet man vereinzelt Andeutungen über ein derartiges Ereignis. Dieser Drache jedoch flog sicher und unverzagt auf seinen Riesenschwingen über das westliche Ufer von Rok, flog über Dörfer und Felder zu dem grünen Berg, der sich hinter der Stadt Thwil erhebt.
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