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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Vor und über ihnen hoben sich die Gipfel und Felsen gegen die Sterne ab. Und nichts rührte sich in dieser schwarzen Welt aus Fels und Stein, nur die zwei menschlichen Seelen.
    Ged stolperte und strauchelte oft. Er war völlig erschöpft und atmete immer mühsamer, und wenn seine Hände die Felsen berührten, stöhnte er auf vor Schmerz. Es brach Arrens Herz, ihn leiden zu sehen. Er versuchte, ihn vor dem Hinfallen zu bewahren, doch der Weg war oft zu schmal, um nebeneinander gehen zu können, und Arren mußte vorangehen, um zu ertasten, wohin sie ihre Füße setzen konnten. Als sie endlich einen Steilhang erreichten, der hinauf zu den Sternen zu führen schien, glitt Ged aus und fiel vornüber. Er stand nicht mehr auf.
    »Mein Gebieter«, sagte Arren und kniete bei ihm nieder; dann sprach er seinen Namen: »Ged!«
    Er rührte sich nicht und gab keine Antwort.
    Arren nahm ihn in seine Arme und trug ihn den Hang hinauf. Oben ging es ein Stück auf ebenem Boden weiter. Arren legte seine Bürde nieder und ließ sich selbst erschöpft und ohne Hoffnung auf den Fels sinken. Dies war der höchste Durchlaß des Passes, der zwischen den beiden schwarzen Gipfeln lag und auf den er sich zugeschleppt hatte. Der Weg führte nicht weiter. Am Ende des ebenen Stück Weges wartete ein Abgrund: jenseits davon erstreckte sich endlose Dunkelheit, und die kleinen Sterne hingen unbeweglich an einem schwarzen Himmel.
    Beharrlichkeit kann stärker als Hoffnung sein und sie überdauern. Arren kroch vorwärts, als er dazu in der Lage war. Er kroch langsam, ganz langsam. Er blickte über den Rand der Dunkelheit und dort, unter ihm, ganz nahe, sah er den elfenbeinernen Strand, die hellen, bernsteinfarbenen Wellen, die heranrollten und sich am Strand in weißem Gischt brachen. Über dem Meer, hinter einem Schleier aus Gold, neigte sich die Sonne gegen den Horizont.
    Arren wandte sich vom Dunkel weg. Er ging zurück, hob Ged hoch, so gut er es vermochte, und ging vorwärts, bis er nicht mehr weiterkonnte. Hier fanden alle Dinge ihr Ende: Durst, Schmerz und Dunkel, das Licht der Sonne und die Stimme des ewig ruhelosen Meeres.

Der Stein der Pein
    EIN DICHTER NEBEL lag über dem Meer und den Dünen und Hügeln von Selidor, als Arren erwachte. Die Brandungswellen rollten leise grollend aus dem Nebel hervor und verschwanden murmelnd wieder darin. Die Flut mußte inzwischen gekommen sein, denn der Strand war jetzt viel schmaler als zuvor, die letzte, kleinste Schaumwelle leckte an Geds ausgestreckter linker Hand. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Sand. Seine Kleidung und sein Haar waren naß, auch Arrens Kleider waren naß und umgaben ihn eisigkalt. Die Wellen mußten sie zumindest einmal überspült haben. Cobs Leichnam war spurlos verschwunden, vielleicht war er vom Meer fortgeschwemmt worden. Doch hinter Arren ragte, vom Nebel leicht verschleiert, riesig und starr, Orm Embars gewaltiger Leichnam wie eine Turmruine in die Höhe.
    Arren erhob sich. Er zitterte vor Kälte und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Seine Glieder waren eiskalt und steif, und eine Schwäche, wie sie von langem, unbeweglichen Liegen herrührt, überfiel ihn. Er taumelte wie ein Betrunkener. Sobald er sich etwas gefangen hatte, ging er zu Ged und zog ihn, so gut er konnte, etwas höher den Strand hinauf, wo die Wellen ihn nicht mehr erreichen konnten; mehr vermochte er im Moment nicht zu tun. Ged war eiskalt und schwer. Arren hatte ihn über die Grenze des Todes zurück ins Leben getragen, aber vielleicht war es vergeblich gewesen. Er legte sein Ohr auf Geds Brust, doch er vernahm nichts. Sein eigener Körper gehorchte ihm nicht, er zitterte, und seine Zähne klapperten. Er stand auf und stampfte mit den Füßen auf den Sand, um sein Blut in Bewegung zu bringen. Ganz allmählich fühlte er, wie die Kraft in seine Glieder zurückkehrte. Er raffte sich zusammen und ging mit zitternden, schleppenden Schritten in Richtung der Dünen, um ihre Beutel zu suchen. Sie hatten sie an einem klaren Bach, der munter zu Tal eilte, fallen lassen, als sie – vor so langer Zeit – hinunter zu dem Haus aus Gebein gelaufen waren. Diesen Bach, den suchte er jetzt, denn der Gedanke an frisches Wasser ließ ihn nicht mehr los.
    Schneller, als er es erwartet hatte, stieß er auf den klaren Bach, der in tausend silberglänzenden Rinnsalen hinunter zum Meer floß. Er ließ sich niederfallen und trank gierig; er tauchte sein Gesicht und seine Hände ins Wasser; er sog das Wasser ein,
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