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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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nicht getötet werden, ich bin nicht sterblich. Ich allein behalte mein Selbst auf alle Ewigkeit.«
    »Wer bist du denn?«
    »Der Unsterbliche.«
    »Sag deinen Namen!«
    »Der König.«
    »Nenne mich bei meinem Namen. Ich habe ihn dir gerade gesagt. Nenne mich bei meinem Namen!«
    »Du bist nicht wirklich. Du hast keinen Namen. Es gibt nur mich.«
    »Es gibt nur dich: ohne Namen, ohne Gestalt! Du, Augenloser, kannst das Licht des Tages nicht erschauen, du siehst das Dunkel nicht. Die Sonne, die Sterne, die grüne Erde hast du verkauft, um dein armseliges Selbst zu retten. Doch du besitzt keines mehr. Du hast alles hergegeben und nichts dafür bekommen. Und jetzt versuchst du, die Welt an dich zu ziehen, das Licht und das Leben, das du verloren hast, damit du deine Leere füllen kannst. Doch sie wird leer bleiben. Alle Laute dieser Erde, alle Sterne des Himmels können diese Leere nicht füllen!«
    Geds Stimme hallte ehern wider im kalten Tal unter den Bergen, und der Blinde schreckte vor ihm zurück. Er hob das Gesicht in die Höhe, und das trübe Sternenlicht fiel darauf. Er sah aus, als ob er weinte, doch er hatte keine Tränen, denn er hatte keine Augen. Sein Mund öffnete sich und schloß sich wieder, die Dunkelheit füllte ihn, doch keine Worte kamen heraus, nur ein Stöhnen. Endlich sagte er, mühsam und mit verzogenen Lippen, das eine, einzige Wort: »Leben.«
    »Wenn ich könnte, würde ich dir dein Leben zurückgeben, Cob. Doch das kann ich nicht. Du bist tot. Doch kann ich dir den Tod geben.«
    »Nein!« Der Blinde schrie auf: »Nein, nein!« Er krümmte sich zusammen, schluchzend, obgleich seine Augenhöhlen so trocken wie das steinige Flußbett blieben, das nur Nacht, doch kein Wasser barg. »Das kannst du nicht. Niemand kann mich befreien. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, und ich kann sie nicht mehr schließen. Niemand kann sie schließen. Sie wird nie mehr geschlossen werden. Dorthin zieht es mich, immer zieht es mich dorthin. Ich muß durch die Tür gehen und dann wieder zurückkommen. Hierher in die Kälte, in das Schweigen und in den Staub muß ich zurückkehren. Es saugt an mir, es saugt an mir. Ich komme nicht davon los. Ich kann sie nicht zuschließen. Und am Ende wird alles Licht aus der Welt gesogen sein, und alle Flüsse werden wie der Trockene Fluß sein. Es gibt keine Macht, die stark genug ist, die Tür, die ich geöffnet habe, wieder zu schließen.«
    Die Mischung von Verzweiflung und Triumph, von Furcht und Eitelkeit, die in seiner Stimme lag, ließ Arren erschaudern.
    Ged fragte nur: »Wo ist sie?«
    »Dort. Nicht weit. Du kannst hingehen. Aber du kannst dort nichts tun. Du kannst sie nicht schließen. Selbst wenn du deine ganze Macht und Kraft in dieser einen Tat verbrauchen würdest, wäre es nicht genug. Nichts ist dafür genug.«
    »Vielleicht«, antwortete Ged. »Du hast es aufgegeben, doch wir, wir haben es noch nicht aufgegeben. Führ uns dorthin!«
    Der Augenlose hob sein Gesicht. Angst und Haß lagen darauf und kämpften miteinander. Der Haß trug den Sieg davon. »Nein, ich führe euch nicht dorthin.«
    Da trat Arren hervor und befahl: »Du wirst uns dorthin führen!«
    Der Blinde rührte sich nicht. Die eisige Kälte und die Dunkelheit des Totenreiches umhüllte sie und umhüllte ihre Worte.
    »Wer bist du?«
    »Ich heiße Lebannen.«
    Ged sprach: »Du, der sich König nennt, du weißt nicht, wer das ist?«
    Wiederum stand Cob, ohne sich zu rühren. Dann sprach er stammelnd: »Aber er ist tot – du bist tot. Du kannst nicht zurück. Kein Weg führt hinaus. Du bist hier gefangen.« Noch während er sprach, erlosch der schwache Lichtflimmer, und sie hörten, wie er sich von ihnen wandte und sich hastig in die Dunkelheit davonstahl. »Geben Sie mir Licht, mein Gebieter!« rief Arren, und Ged hielt seinen Stab hoch über seinen Kopf, damit das weiße Licht die uralte Dunkelheit zerbreche, und sie sahen, wie die gekrümmte Gestalt des Blinden, ohne zu zögern, sicher und hurtig, doch mit merkwürdigem Gang das Flußbett hinaufeilte, die Felsen mied und Schatten suchte. Ihm auf den Fersen folgend rannte Arren, und dahinter kam Ged.
    Bald war Arren seinem Gefährten weit voraus. Das Licht wurde schwächer und war oft ganz verdeckt von den Felsen und Windungen des Flußbettes. Doch Arren spürte Cobs Gegenwart, er hörte das Geräusch, das seine Füße verursachten, und der Abstand zwischen Arren und Cob verringerte sich, besonders, als der Weg steiler wurde. Sie
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