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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Arren das Sonnenlicht auf dem Wasser glänzen. Die Dünen wurden sichtbar und verschwanden wieder, farblos erschienen sie und vergrößert in den wogenden, wallenden Nebelfetzen. Sonnenstrahlen fielen auf Orm Embars Leichnam und ließen ihn hell erstrahlen, kolossal und überwältigend selbst im Tod.
    Der andere riesige Drache lag regungslos, wie aus Eisen gegossen, am anderen Ufer des Baches.
    Gegen Mittag brach die Sonne endgültig durch den Nebel und schien warm und hell am wolkenlosen Himmel. Arren legte seine nassen Kleider ab, um sie zu trocknen. Er war nackt bis auf sein Schwert und seinen Schwimmgürtel. Behutsam zog er Ged aus, um auch seine Kleidung zu trocknen und die heilende, wärmende Lichtflut auf ihn herabströmen zu lassen; doch der blieb weiterhin regungslos liegen.
    Ein leises Kratzen ließ ihn aufhorchen. Es klang wie Metall, das gegen Metall reibt, wie das leise Klirren von gekreuzten Schwertern. Der eisengepanzerte Drache hatte sich auf seine krummen Beine erhoben. Schwerfällig überquerte er den Bach, knirschend schleppte sich sein langer Körper durch den Sand. Arren sah die Falten an den Schultergelenken, sah die langen, gelben, stumpfen Zähne und den Panzer, der verbeult und eingedrückt war wie die Rüstung von Erreth-Akbe. An den langsamen, bedächtigen Bewegungen, an der Ruhe, die unergründlich und fast erschrekkend war, erkannte Arren das Alter des Drachen: ein Alter, größer als es Jahre messen können, größer als die Erinnerung reicht. Und als der Drache einige Schritte von Ged entfernt stehenblieb, stellte sich Arren zwischen sie und fragte auf hardisch, denn er war der Ursprache nicht mächtig: »Bist du Kalessin?«
    Der Drache antwortete nicht, doch schien es fast, als lächle er. Dann senkte er sein Haupt und streckte seinen langen Hals nach vorne zu Ged hin und sprach seinen Namen.
    Seine Stimme war mächtig und sanft zugleich, und als er den Rachen öffnete, roch es wie aus einer Schmiedeesse.
    Noch einmal wiederholte er den Namen. Beim dritten Mal öffnete Ged die Augen. Nach einer Weile versuchte er, sich aufzurichten, doch die Kräfte fehlten ihm. Arren kniete bei ihm nieder und stützte ihn. Dann sprach Ged: »Kalessin«, sagte er, »Senvanissai’n ar Roke!« Seine Kräfte verließen ihn. Er lehnte den Kopf an Arrens Schulter und schloß die Augen.
    Der Drache antwortete nicht. Er lag wie zuvor unbeweglich im Sand. Der Nebel kam zurück, legte sich wie ein Schleier vor die Sonne und senkte sich langsam auf die See.
    Arren bekleidete sich und Ged und hüllte ihn in seinen Umhang. Die Ebbe war vorüber, der Strand, der weit hinaus gereicht hatte, wurde von den zurückkehrenden Wellen immer weiter, immer höher überspült. Arren überlegte sich, wie er Ged die Dünen hinaufbringen konnte, wo es trockener war. Obwohl er sich viel kräftiger fühlte als zuvor, so war es doch keine leichte Aufgabe.
    Als er sich zu Ged hinunterbeugte, um ihn hochzuziehen, streckte der Drache seinen Fuß aus. Vier Riesenkrallen, ähnlich geformt wie ein Hahnenfuß, mit einem stählernen, sensenähnlichen Sporn, streckten sich ihm entgegen.
    »Sobriost«, sagte der Drache, und die Laute kamen pfeifend und so eiskalt wie der Wind des Januars, der durch gefrorenes Schilfrohr streicht.
    »Rühre meinen Gebieter nicht an! Er hat uns alle gerettet, und seine Tat hat ihn seine ganze Kraft, vielleicht sogar sein Leben gekostet. Rühre ihn nicht an!«
    Arrens Augen flammten, und seine Stimme klang gebieterisch. Das Maß war voll. Er war zu eingeschüchtert gewesen, hatte Angst gehabt, doch nun mochte kommen, was da wolle, der Zorn wurde übermächtig in ihm, Zorn gegen die Ungerechtigkeit, die er in der physischen Übermacht des Drachen sah. Er, Arren, hatte den Tod gesehen, er hatte ihn am eigenen Leib verspürt und keine Drohung, selbst die eines Drachen, konnte ihn mehr schrecken.
    Kalessin, der alte Drache, blickte ihn aus schmalen, goldenen, schrecklichen Augen an. Unzählige Menschenalter blickten aus diesen Augen, weit reichten sie zurück, und in der letzten Tiefe lag der Morgen dieser Welt. Obgleich Arren das Auge vermied, so spürte er doch, daß es auf ihm ruhte, daß es ihn durchschaute und etwas lächerlich fand.
    »Arw sobriost«, sagte der Drache, und seine rötlichen Nüstern weiteten sich. Tief drinnen funkelte das unterdrückte Feuer.
    Arrens Arm war unter Geds Schulter. Er war gerade im Begriff gewesen, Ged hochzuheben, als Kalessins Bewegung ihn unterbrochen hatte; jetzt spürte
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