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Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 3 - Das ferne Ufer
Autoren: Ursula K. LeGuin
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durch den Mund in die Seele.
    Endlich hatte er genug. Er blickte auf und sah am anderen Ufer des Baches einen riesigen Drachen.
    Sein großer Kopf war eisengrau, nur an den Nüstern, um die Augen und am Rachen war er rostrot gefärbt. Er war ihm zugewandt, ja er hing fast über ihm. Die Krallen waren tief in den nassen, weichen Sand des Ufers eingesunken. Die Flügel, so groß wie Segel, waren zurückgelegt; sie waren, wie der Schwanz der Echse, nur teilweise sichtbar. Der Rest verlor sich im Nebel.
    Der Drache rührte sich nicht. Vielleicht lag er schon stunden-, tage-, jahre- oder jahrhundertelang hier – wie aus Eisen gegossen, wie aus Stein gemeißelt – doch die Augen, in die Arren nicht zu blicken wagte, die Augen waren wie Öl, das sich auf Wasser zusammengefunden hat, wie gelber Rauch hinter Glas. Und diese gelbverschleierten Augen ruhten auf Arren.
    Arren hatte keine Wahl, er mußte aufstehen. Wenn der Drache beabsichtigte, ihn zu töten, so konnte er ihn nicht daran hindern. Und wenn er ihn verschonte, so wollte er wenigstens Ged helfen, wenn ihm noch geholfen werden konnte. Er begann, sich den Bach aufwärts zu bewegen, wo ihre Beutel liegen mußten.
    Der Drache rührte sich immer noch nicht. Er lag regungslos am Ufer und beobachtete Arren. Der fand die beiden Beutel, füllte die Ledertaschen mit frischem Wasser und ging zurück zu Ged. Nach wenigen Schritten schon war der Drache hinter ihm im dichten Nebel verschwunden.
    Er gab Ged zu trinken, doch es gelang ihm nicht, ihn aufzuwecken. Sein Kopf lag schlaff und kalt auf Arrens Arm. Sein dunkles Gesicht sah grau aus, die Nase, die Backenknochen und die alten Narben traten scharf hervor. Selbst sein Körper sah dünn aus, wie von einem inneren Brand verzehrt.
    Arren saß auf dem feuchten Sand, das Haupt seines Gefährten auf den Knien. Der Nebel umgab sie als graues, unbestimmtes Etwas, das sich nach oben hin erhellte. Irgendwo hinter ihnen lag der tote Orm Embar und weiter oben wartete der lebende Drache. Und irgendwo auf der anderen Seite von Selidor lag ihr Boot, die Weitblick , ohne Proviant und leer. Und hinter dem Boot erstreckte sich das Meer dreihundert Meilen weit bis zur nächsten Insel des Westbereiches und weit über fünfhundert bis zum Innenmeer. Im fernen, fernen Selidor, hieß es in den alten Märchen und Legenden, die man in Enlad den Kindern erzählte. Vor langer, langer Zeit, im fernen, fernen Selidor, lebte einst ein Prinz …
    Er war der Prinz. Damit begannen die alten Märchen, doch dies hier schien das Ende zu sein.
    Er fühlte sich nicht wirklich niedergeschlagen. Obgleich er müde war und der Kummer um seinen Gefährten schwer auf ihm lastete, blickte er ohne das geringste Bedauern, ohne jede Bitterkeit zurück. Doch jetzt gab es nichts mehr zu tun. Alles war vollbracht.
    Er spürte, wie die Kräfte langsam in seine Glieder zurückkehrten und ihm fiel ein, daß er in seinem Beutel eine Angelschnur verwahrte, mit der er vom Ufer aus versuchen konnte, Fische zu fangen. Nachdem er nämlich seinen Durst gestillt hatte, begann der Hunger heftig an ihm zu nagen. Außer ein paar Scheiben Brot war nichts von ihrem Proviant übriggeblieben, und er hatte beschlossen, das Brot aufzuheben und es später aufzuweichen, um seinen Gefährten damit zu stärken.
    Mehr war nicht zu tun. Weiter konnte er nicht blikken. Der Nebel umgab ihn von allen Seiten.
    Zusammengekauert saß er bei Ged und kramte in seinen Taschen herum. Vielleicht fand sich etwas Brauchbares darin. In der Westentasche stießen seine Finger auf etwas Hartes, Scharfes. Er zog es heraus und betrachtete es verwundert. Es war ein kleiner Stein, schwarz, porös und hart. Er hob den Arm, um ihn wegzuwerfen. Doch plötzlich hielt er inne. Er fühlte die scharfen Kanten, die sich in seine Hand gruben, er spürte das Gewicht und wußte mit einem Mal, was er da hielt: ein winziges Stück Felsgestein, das vom Berg der Pein gebrochen war. Seine Tasche mußte sich daran verhakt und es mitgerissen haben, vielleicht als er hinaufkletterte, vielleicht als er Ged über den Paß trug. Er schaute es an, dieses ewig unveränderliche Ding, den Stein der Pein. Seine Hand schloß sich darum und hielt ihn fest. Und er lächelte, ernst und doch tief beglückt, denn er hatte, zum erstenmal in seinem Leben, ganz allein und von niemanden dafür gepriesen, am Ende der Welt erfahren dürfen, was es heißt, den Sieg davonzutragen.
    Die Nebel wurden lichter und begannen, sich zu verziehen. Weit draußen sah
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