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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Lächeln auf den Lippen. Das einzige an ihm, was ganz und gar nicht lässig und entspannt wirkte, war seine rechte Hand. Sie war halb erhoben und richtete einen kleinen, sechsschüssigen Revolver auf mich.
    »Card!« murmelte ich. »Wie kommen Sie hierher?«
    »Auf dem gleichen Weg wie Sie, Simpson«, antwortete er und machte eine Kopfbewegung zum Ausgang. »Durch die Tür. Ich war so frei, sie für Sie offenzulassen. Ich dachte mir, daß Sie hierherkommen würden. Aber besonders intelligent war das nicht, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.« Er lächelte spöttisch, stieß sich von der Schreibtischkante ab und kam gemächlich auf mich zu.
    »Reden Sie immer mit Ihren Möbelstücken?« fragte er dann.
    »Sie verstehen überhaupt nichts, Card«, antwortete ich. Ich spürte, wie ich ganz allmählich, aber unaufhaltsam, in Panik zu geraten begann. Wieviel Zeit blieb mir noch? Sechzig Sekunden? Oder weniger?
    »Das ist keine Uhr, Card.«
    »Ach?« Card lachte, aber es klang nicht ganz echt.
    Ich konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
    »Wenn ich so wenig verstehe, dann erklären Sie es mir doch einfach«, fuhr er fort. »Ich bin zwar nur ein dummer kleiner Polizist, aber manchmal begreife ich recht schnell. Vor allem, wenn man versucht, mich für dumm zu verkaufen, wissen Sie?«
    »Dazu bleibt keine Zeit!« sagte ich gehetzt. »Bitte, Card!«
    »Oh, wir haben Zeit«, antwortete Card gelassen. »Alle Zeit der Welt. Oder wenigstens fast. Fangen Sie an Sie werden sehen, ich bin ein geduldiger Zuhörer.«

    Meine Gedanken überschlugen sich. Ich war nicht sicher, ob Card wirklich auf mich schießen würde, aber das mußte er auch nicht. Er wog mindestens fünfzig Pfund mehr als ich, und nur sehr wenig davon war überflüssiges Fett. Für einen Mann wie Card wäre es eine Kleinigkeit, mich zu überwältigen. Ich wog in Gedanken meine Chancen ab, mit einer blitzschnellen Bewegung die Uhr zu erreichen und hineinzuspringen.
    Aber sie standen nicht sehr gut.
    »Also?« fragte Card ungeduldig.
    »Sehen Sie aus dem Fenster«, antwortete ich.
    Card lachte. »Für wie blöde halten Sie mich eigentlich?«
    »Tun Sie es«, wiederholte ich. »Ich gebe Ihnen mein Ehren-wort, in dieser Zeit nichts zu unternehmen. Aber danach werden Sie mich verstehen.«
    Card verschwendete weitere kostbare Sekunden damit, mich einfach anzustarren. Aber dann, als ich schon glaubte, er würde es nicht tun, wandte er sich zögernd ab, ging zum Fenster und schlug die Vorhänge zurück. »Schauen Sie nach Osten«, sagte ich. »Sehen Sie sich die City an. Ganz genau.«
    Card tat es. Und ich konnte beobachten, wie er zusammenfuhr und erbleichte. »Großer Gott!« flüsterte er. »Was ist das?«
    Ein dumpfer, lang nachhallender Gongschlag verschluckte meine Antwort. Mitternacht. Die Uhr begann zu schlagen. Die Frist war abgelaufen.
    Card fuhr herum, starrte abwechselnd mich und die Uhr an und suchte sichtlich nach Worten. Er war erschüttert bis ins Innerste.
    »Was ist das, Simpson?« fragte er. »Was geschieht dort draußen?«
    Der zweite Schlag, dann der dritte, vierte, fünfte.
    Mir kam es vor, als schlüge die Uhr viel, viel schneller als sonst, was aber wohl nur an meiner Nervosität lag.
    Der zehnte Schlag, der elfte …

    »Bitte, Card!« flehte ich. »Ich kann es Ihnen jetzt nicht erklären, aber «
    Das zwölfte dröhnende Schlagen der Uhr unterbrach mich.
    Und Cards Augen wurden groß, als er an mir vorbeistarrte.
    Ich war nicht im mindesten überrascht, als ich mich herumdrehte und sah, daß die Uhrtür wie von Geisterhand bewegt aufgeschwungen war und daß sich hinter der Tür nicht mehr das Gestänge, sondern wieder der unheimliche, wabbernde Korridor befand. Grünes Licht durchflutete das Zimmer, und Card stieß ungläubig ein paar unverständliche Worte hervor.
    Ohne weiter auf die Pistole in seiner Hand zu achten, trat ich auf die Uhr zu. Mein Herz hämmerte, als wollte es jeden Augenblick zerspringen.
    »Bleiben Sie stehen!« krächzte Card. »Ich meine es ernst, Simpson! Ich schieße!«
    »Tun Sie das, Captain«, sagte ich und trat mit einem entschlossenen Schritt in die Uhr hinein.
    Es war wie beim erstenmal, als ich diesen entsetzlichen Korridor durch die Zeit benutzt hatte ich spürte nichts, nicht einmal den Ablauf einer Bewegung: Ich trat einfach auf der anderen Seite wieder aus der Uhr hinaus und blieb stehen.
    Aber nur für eine Sekunde, dann hörte ich einen Schrei hinter mir, und etwas traf mich mit der Wucht
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