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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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eines heranrasenden Dreißig-Tonnen-LKWs und riß mich von den Füßen. Instinktiv versuchte ich mich abzurollen, aber ich wurde gepackt und mit fürchterlicher Kraft gegen den Boden gepreßt. Cards wutver-zerrtes Gesicht tauchte über mir auf.
    »Ich habe Sie gewarnt, Simpson!« keuchte er. »Versuchen Sie das nicht noch einmal, oder «
    »Warum hören Sie nicht für eine Sekunde auf, auf mich einzuprügeln, und sehen sich einfach um?« unterbrach ich ihn.
    Card starrte mich an, hob aber dann gehorsam den Kopf
    und stieß einen verblüfften Laut aus. Anders als beim erstenmal, als ich die Uhr benutzt hatte, war die Veränderung jetzt unübersehbar: Das Zimmer war weder frisch renoviert noch neu eingerichtet, sondern stellte das perfekte Abbild des Arbeitszimmers vor dem Brand dar.
    »Aber das ist doch unmöglich!« flüsterte Card.
    »Das ist es nicht, Captain«, antwortete ich mühsam. Ich bekam kaum noch Luft, denn Card hockte mit seinen gut zwei Zentnern Lebendgewicht wie eine übergroße fette Kröte auf meiner Brust. »Ich werde es Ihnen erklären, wenn Sie die Güte hätten, von mir herunterzusteigen bevor ich erstickt bin.«
    Card fuhr schuldbewußt zusammen, stand hastig auf und streckte sogar die Hand aus, um mir beim Aufstehen behilflich zu sein. Ich ignorierte sie, rappelte mich aus eigener Kraft hoch und sah mich um.
    Nichts schien verändert zu sein. Alles sah so aus wie bei meinem ersten Besuch in der Vergangenheit, und vor dem Fenster tobte wieder das Unwetter.
    »Was … was bedeutet das alles?« stammelte Card.
    Er hielt die Waffe noch immer auf mich gerichtet, aber ich war jetzt sicher, daß er sie nicht mehr benutzen würde. Ich antwortete auch nicht auf seine Frage, sondern schlich auf Zehenspitzen zur Tür, lugte auf den Gang hinaus und bedeutete ihm mit der einen Hand heranzukommen, während ich den Zeigefinger der anderen mahnend auf die Lippen legte. Card nickte. Mit einer Lautlosigkeit, die ich einem Mann seiner Größe nicht zugetraut hätte, trat er neben mich und starrte ebenfalls durch den Türspalt.»Was geht hier vor?« flüsterte er.
    Ich zuckte zur Antwort mit den Achseln. »Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären, Card«, erwiderte ich kurz. »Nur so viel was immer auch geschieht, helfen Sie mir, oder die Welt, in der Sie sich wiederfinden, wird so sein wie die, die sie vorhin vor dem Fenster gesehen haben.«
    Card erbleichte noch ein ganz kleines bißchen mehr.

    Aber er schwieg. Und ich hoffte, daß er verstanden hatte.
    Als wir das Zimmer verließen, begann die Uhr hinter uns wieder zu schlagen. Aber etwas an ihrem Klang war anders: Was wir hörten, war nicht der schwere, lang nachhallende Gong des Läutwerks, sondern ein rhythmisches, unendlich dunkles Wumm-Bumm, Wumm-Bumm, Wumm-Bumm, das an das Schlagen eines gigantischen Herzens erinnerte. Und es verstummte auch nicht nach dem zwölften Mal, sondern schlug weiter. Gleichzeitig veränderte sich das Licht: Alle Farben wurden mit einemmal blasser und alle Schatten tiefer und bedrohlicher. Und die Uhr hämmerte weiter.
    Card war leichenblaß geworden. Seine Hand umspannte den Revolver so fest, als wollte er ihn zerbrechen. Ich verzichtete darauf, ihm zu sagen, wie wenig ihm die Waffe im Ernstfall nutzen würde, griff aber selbst in die Hosentasche und zog den Sternstein von M’nar hervor, den H. P. mir gegeben hatte.
    Mit der anderen Hand deutete ich zur Treppe und gab Card gleichzeitig zu verstehen, keinen überflüssigen Laut zu machen. Auf Zehenspitzen begannen wir die Treppe hinunter-zuschleichen. Ich blickte gebannt zum Salon hinüber und lauschte, aber wenn mein Vater und Priscilla noch da waren, so verschluckte das Heulen des Sturmes ihre Worte. Eines Sturmes, der sich, wie ich wußte, Augenblicke später zum Tornado auswachsen würde. Es war ein bizarres Gefühl, ganz genau zu wissen, was als nächstes geschehen würde.
    Trotzdem fuhr ich erschrocken zusammen, als die erste Sturmböe das Haus traf und es wie unter einem Hammerschlag erbeben ließ. Die Treppe unter unseren Füßen wankte wie das Deck eines Schiffes auf hoher See. Card rief mir erschrocken etwas zu, aber seine Worte gingen in dem gewaltigen Krachen eines Donnerschlages unter, der das Haus in seinen Grundfe-sten erbeben ließ.
    Und plötzlich wurde es hell, unerträglich hell. Unter uns im Salon splitterte Glas, und ein unsagbar grelles, gleißendes Licht ließ mich stöhnend die Augen schließen. Der Blitz! durchfuhr es mich. Was ich in meiner Vision
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