Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
M’nar die Brust des entsetzlichen Zwitterwe-sens und vernichtete beide.
    In seiner Urgestalt wäre der Große Alte unbezwingbar gewesen, durch jede nur denkbare Waffe. Aber für den zeitlos kurzen Moment der Verschmelzung mit dem Wächter war er so verwundbar wie die Kreatur, die er erschaffen hatte.
    In der Halle schien eine zweite, grausam helle Sonne aufzugehen. Licht, Licht von ungeahnter Intensität hüllte die beiden ineinandergekrallten Ungeheuer ein und verzehrte sie. Gleichzeitig erscholl aus dem Salon ein so gräßlicher Schrei, daß ich glaubte, das Trommelfell müßte mir platzen, ein Schrei so voller Wut und Enttäuschung, wie ihn kein Wesen dieses Universums hervorbringen könnte.
    Ich hob schützend die Arme vor die Augen, blinzelte in den Vulkan aus Licht hinein, der den Salon verschlungen hatte, und sah, wie eine unsichtbare Macht nach dem Siegel griff und es in sechs gleich große, brennende Teile zerbrach. Da schien sich die Ankunft der Großen Alten auf unheimliche Weise umzu-kehren, als würde der Film zurückgespult. Dieselbe unsichtbare Riesenfaust, die das Siegel zermalmt hatte, riß sie zurück in ihr Gefängnis zwischen den Wirklichkeiten, rasend schnell und unbarmherzig. Der Wutschrei der Großen Alten verhallte.
    Gleichzeitig erloschen die Blitzkanäle, einer nach dem anderen.
    Plötzlich war es still. Selbst das Prasseln der Flammen und das Grollen des Unwetters klang gedämpft, wie von weit, weit her. Rund um uns brannte es lichterloh, und das Haus ächzte unter der Urgewalt des Feuers, das es verzehrte, aber es waren jetzt nur noch gewöhnliche Flammen, nicht mehr das Höllen-feuer der Großen Alten.
    Es war vorbei.
    Ich versuchte mich hochzustemmen, und diesmal ging es.
    Mein Bein tat erbärmlich weh, aber ich brachte die Kraft auf, mich aufzurappeln und zu Card hinüberzuhumpeln, und irgendwie bewerkstelligte ich sogar das Wunder, ihm auf die Beine zu helfen und ihn zu stützen. Aneinandergeklammert taumelten wir auf die brennende Treppe zu.
    Über uns begann das Haus zusammenzubrechen, während wir uns nach oben quälten. Die Luft war voller Hitze und beißendem Qualm und Flammen, und mehr als einmal erzitterte die ganze Treppe unter unseren Füßen wie ein waidwundes Tier. Die wenigen Schritte ins Arbeitszimmer hinauf wurden zu einem Wettlauf mit dem Tod.
    Aber wir gewannen ihn.

    Über der Stadt ging die Sonne auf, als Card und ich vor das Haus traten, und ich glaube kaum, daß uns jemals ein Sonnenaufgang so schön erschienen war wie dieser.
    Es war ein normaler Sonnenaufgang, und die Stadt, deren Silhouette allmählich aus der Nacht auftauchte, war das ganz normale London ein Anblick, den noch einmal zu sehen weder er noch ich zu hoffen gewagt hatten. Wir blieben lange einfach im Garten stehen und genossen es, den Tag heraufziehen zu sehen, zu sehen, wie sich die Schatten, die jetzt wieder nichts anderes als ganz normale Schatten waren, allmählich zurückzogen und dem strahlenden Licht der Sonne wichen, und all dies empfanden wir als kostbares Wunder, das wir stets viel zu wenig gewürdigt hatten.
    Den Rest der vergangenen Nacht hatten wir zum Teil damit verbracht, uns gegenseitig zu verarzten und unsere Wunden zu versorgen, die sich gottlob allesamt als nicht sehr ernsthaft herausgestellt hatten: Card hatte einen geprellten Rücken, mein rechtes Fußgelenk war verstaucht, und wir beide waren mit blauen Flecken und Prellungen und blutigen Kratzern nur so übersät, aber im Grund waren das nur Lappalien. Danach hatten wir geredet. Das heißt: Ich hatte geredet, und Card hatte zugehört. Ich hatte ihm alles erzählt, die ganze Geschichte, soweit ich sie kannte und verstand, und er hatte mich kein einziges Mal unterbrochen. Und auch danach war er sehr lange sehr still geblieben. Aber er glaubte mir, das spürte ich. Und welche andere Wahl hatte er schon?
    »Ich werde alles in Ordnung bringen«, versprach er zum Abschied. »In einer Stunde ist die Anklage gegen Sie vom Tisch, dafür verbürge ich mich. Und dann wird sich ein gewisser sehr hochgestellter Jemand aus dem Unterhaus auf dem Stuhl wiederfinden, auf dem Sie vorgestern gesessen haben.«
    »Lassen Sie es sein«, antwortete ich.
    Card sah mich verwirrt an.
    »Wer immer es war, er wird sich an nichts erinnern«, sagte ich. »Haben Sie vergessen, was Mary passiert ist? Es war nicht ihre Schuld. Der Wächter hat sie gezwungen, so zu handeln.«
    Ich lächelte. »Begraben Sie die ganze Sache einfach. Immerhin ist eine dicke
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher