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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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ist.
    Die hier aufgezeigte, paradox anmutende Logik, dass das Streben nach Grenzenlosigkeit eine verstärkte Abhängigkeit zur Folge hat, gilt bei allen für die psychische Entwicklung erforderlichen Grenzüberschreitungen. Damit wird nicht behauptet, dass jede Art von Entgrenzung abhängig mache oder dass die heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten als solche eine kontraproduktive, nämlich abhängig machende Wirkung hätten. Im Gegenteil, viele Entgrenzungen und Grenzbeseitigungen (etwa in der Medizin oder Genforschung) tragen zu einer äußerst hilfreichen Potenzierung des Menschen-Möglichen und damit zu mehr Freiheit bei. Auch wurde vom Psychologischen her deutlich gemacht, wie notwendig Grenzüberschreitungen zu neuen Möglichkeiten und Grenzen sind.
    Sehr wohl aber wird bekräftigt, dass das für den entgrenzten Menschen typische Streben, Erfahrungen der Begrenztheit durch
eine Neukonstruktion der Persönlichkeit zu beseitigen, zu einer Abhängigkeit von ichfremden Kräften führt. Darüber hinaus ist es unzweifelhaft, dass das Entgrenzungsstreben bei entwicklungspsychologisch notwendigen Grenzüberschreitungen psychische Abhängigkeiten zur Folge hat. In beiden Fällen führt das Streben nach mehr Freiheit durch die Beseitigung von Grenzen psychologisch zu größerer Abhängigkeit, und zwar unabhängig davon, ob das Abhängigkeitserleben vom Bewusstsein ferngehalten, rationalisiert oder einfach schön geredet wird. Die faktische Abhängigkeit vom gemachten Vermögen bzw. von Symbolisierungen der Grenzenlosigkeit tritt erfahrungsgemäß sofort zu Tage, wenn dem entgrenzten Menschen das gemachte Vermögen entzogen oder ihm die Symbolisierungen der Grenzenlosigkeit streitig gemacht werden.
    Intensität und Form der Abhängigkeit können dabei sehr variieren. Sie hängen davon ab, wie dominant das Entgrenzungsstreben ist und wie bzw. womit die Grenze beseitigt oder ausgeblendet wird; auch kommt es darauf an, welche psychische Funktion die Grenze hat, die zum Zwecke der Erfahrung von Grenzenlosigkeit beseitigt wird. Das Hauptinteresse entgrenzter Menschen besteht immer darin, sich grenzenlos erfahren zu können, weshalb sie alle Indizien der Begrenztheit ihres Aussehens, Verhaltens, Gefühlserlebens, ihrer Leistungs- oder Beziehungsfähigkeit durch eine Neukonstruktion ihrer Persönlichkeit real zu beseitigen versuchen oder doch wenigstens vom Selbsterleben fernhalten wollen. Die Stärke der psychischen Abhängigkeit von Erfahrungen der Grenzenlosigkeit hängt dabei direkt von der Fähigkeit ab, sich noch in der eigenen Begrenztheit erleben und zeigen zu können. Je geringer diese Fähigkeit ist, desto stärker sind das Entgrenzungsstreben und die mit ihm einhergehende Abhängigkeit.
    Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat die Frage, auf welche Weise die Erfahrung von Grenzen beseitigt bzw. ausgeblendet wird. Die abhängigkeitskrank machende Wirkung bestimmter psychotroper Substanzen (wie etwa des Alkohols) und exzessiver Verhaltensweisen (wie etwa der Spielsucht) ist bekannt;
die krankmachenden Auswirkungen der Virtualisierung der Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie die Auswirkungen der Flucht in virtuelle Second-Life-Welten ist weniger eindeutig und je nach Perspektive strittig: Die mit Psycho-und Soziotechniken neukonstruierte Persönlichkeit funktioniert gesellschaftlich reibungsloser und ist unter den gegebenen Umständen ökonomisch produktiver; im Blick auf seine seelische und psycho-physische Gesundheit leidet der entgrenzte Mensch hingegen vermehrt an depressiven Erkrankungen, an Erkrankungen der Affektregulation und an somatoformen psychischen Krankheiten. Er zeichnet sich durch ein vielfältiges süchtiges Verhalten (vom Konsumismus bis zur Eventsucht) aus spürt ein deutliches »Unbehagen im Leben«, so dass er oft nur noch mit psychopharmakologischen Mitteln genuss- und arbeitsfähig ist.
    Wichtig ist auch, welche Grenze beseitigt wird, um sich grenzenlos erfahren zu können. Die ausgeblendete Grenze soll ja eine ganz bestimmte Grenzenlosigkeit ermöglichen. Diese ist meist nicht direkt und real erfahrbar, sondern in Abhängigkeit von Symbolisierungen, Fantasien, Inszenierungen oder Virtualisierungen. Der Wunsch nach grenzenloser Zuwendung, so wurde gezeigt, führt zur Abhängigkeit von realen, fantasierten, inszenierten, virtuellen Größen bedingungsloser Liebe und zur Abhängigkeit von Figuren, die eine solche grenzenlose Zuwendung symbolisieren. Der Wunsch nach
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