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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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Leistung zu ermöglichen, muss vielmehr von allen Bezugspersonen ab einem bestimmten Alter des Kindes wahrgenommen werden (auch von der Mutter). Psychologisch korrekter formuliert geht es in den ersten Lebensjahren nicht um Vater und Mutter, sondern um mütterliche und väterliche Funktionen und Beziehungserfahrungen für das Kind. Die väterliche Funktion aber wird mit der Entgrenzung unterlaufen.

FOLGEN DER GRENZENLOSIGKEIT
    Die Ausblendung der väterlichen Funktion, bleibt nicht ohne Folgen für das Kind. Im Ödipusmythos führt die Ausblendung des Vaters zum Vatermord. Nachdem Ödipus (wörtlich: »Schwellfuß«) unwissentlich seinen Vater getötet, und seine Mutter Iokaste geheiratet hat und der Inzest offenkundig wird, erhängt sich Iokaste, und Ödipus sticht sich mit zwei goldenen Nadeln aus Iokastes Gewand die Augen aus. Die Ausblendung der väterlichen Funktion führt schließlich zur Blendung des Ausblendenden.
    Die von Sigmund Freud vorgenommene sexuelle Deutung des Ödipusmythos und des »Vatermords« trifft das Problem deshalb nur ansatzweise. Der Mythos handelt nicht von Triebvorgängen, sondern von dramatischen Beziehungserfahrungen; auch geht es nur vordergründig um die Beseitigung des Vaters und die Heirat der Mutter (im Mythos durch die »Unwissenheit« des Tuns symbolisiert); vielmehr werden die tragischen Folgen einer Beseitigung der väterlichen Funktion um der uneingeschränkten Sicherung einer bedingungslos liebenden mütterlichen Funktion und eines entsprechenden (inzesthaft-symbiotischen) Beziehungserlebens willen von Sophokles in eine Handlung gebracht (vgl. Fromm 1979, S. 281-290). Das Ausblenden der väterlichen Funktion führt zu einer bleibenden Abhängigkeit von bedingungslos liebenden Personen oder von Symbolisierungen einer solchen Liebe.
    Eine solche Entgrenzung folgt jedoch einer anderen Dynamik und hat andere Auswirkungen als eine gescheiterte Grenzüberschreitung auf Grund einer nicht durchstandenen Verlustangst und Trauer. Ein Kind, das - aus welchen Gründen auch immer - sich nicht traut, von der bedingungslosen Liebe Abschied zu nehmen, bleibt von dieser abhängig. Diese Abhängigkeit wird als emotionale Fixierung an eine missglückte Grenzüberschreitung erlebt: Das Kind hadert mit allen, die Grenzen setzen wollen,
muss sie entwerten oder fühlt sich von ihnen verfolgt; und es ist auf alle böse, die nicht bedingungslos lieben können bzw. idealisiert jene, die so lieben können und setzt sie mit seinen überhöhten Erwartungen unter Druck. Die Auswirkungen einer solchen Fixierung sind auf der emotionalen Erlebensebene meistens neurotische Ängste und Depressionen, auf der Beziehungsebene symbiotische Nähewünsche und/oder permanente Wechsel von Nähe und Distanz, Anziehung und Abstoßung, Idealisierung und Entwertung, Beziehungen Aufnehmen und Abbrechen, weil alle Beziehungsaufnahmen mit hohen Erwartungen nach bedingungsloser Liebe und Verlässlichkeit verknüpft sind - und enttäuscht werden.
    Wird der Abschied von der bedingungslosen Liebe auf entgrenzende Weise bewältigt, so entsteht auch hier eine bleibende Abhängigkeit von mütterlichen Figuren und ihren Symbolisierungen. Dadurch aber, dass die Grenzen setzende (väterliche) Funktion aus dem Wahrnehmungs- und emotionalen Erlebensbereich ausgeblendet wird, kann es - wie im Ödipusmythos dargestellt - zu einer virtuellen Beziehungskonstruktion und zu einer Virtualisierung des Beziehungserlebens kommen, in denen das Reich einer bedingungslosen Liebe keine Grenzen kennt. Im Zentrum des Interesses steht nicht wie bei der Fixierung die Auseinandersetzung mit der (auch Versagung zumutenden) Grenze und das Leiden an ihr, sondern die (regressive) Herstellung und Sicherung eines Selbsterlebens grenzenloser Zuwendung und bedingungslosen Geliebtwerdens. In psychologischer Perspektive zielt das Entgrenzungsstreben auf die Fortdauer eines Lebens grenzenloser Zuwendung.
    Auf die gravierenden Folgen dieses Entgrenzungsvorgangs für die psychische Strukturbildung in der Kindheit wurde bereits hingewiesen: In dem Maße, als die emotionale Auseinandersetzung mit dem Verlust der bedingungslosen Liebe ausfällt, weil die väterliche Funktion ausgeblendet wird, kann es auch zu keiner Verinnerlichung des Urvertrauens und der väterlichen Grenzziehungen kommen und werden je neu zu ermittelnde und zu
konstruierende Außenorientierungen des Wollens, Sollens und Nicht-Dürfens unerlässlich.
    Die Einladung an Kinder, in eine simulierte
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