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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch
Autoren: Rainer Funk
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grenzenlosem Schutz, den Kinder brauchen, Jugendliche in riskantem Verhalten überschreiten und Erwachsene schließlich dadurch überwunden haben, dass sie für sich (und andere) Verantwortung zu übernehmen fähig sind, führt bei entgrenzten Menschen zu einer Abhängigkeit von grenzenlos Schutz gebenden Größen. Sie machen sich von Einrichtungen der »Rundumversorgung«, von »Sorglos-Paketen« der Versicherungen und vom »Hotel Mama« abhängig, »brauchen« einen vor allem Schutz und Sicherheit gebenden Lebenspartner und fühlen sich ohne versichernde Kontakte zu religiösen Schutzfiguren wie Engeln, Heiligen oder deren esoterischen Geschwistern nur schutzlos.
    Die Begrenztheit des Lebens angesichts nachlassender Kräfte
anzuerkennen, ist eine mindestens ebenso wichtige Grenzüberschreitung, wie die Begrenztheit bedingungsloser Liebe und die einer geschützten Kindheit anzuerkennen und zu überschreiten. Der Wunsch, sich das Leben in seiner Vielfalt und scheinbaren Unbegrenztheit erhalten zu können, führt zu einer umfassenden Abhängigkeit von Realisierungen, Inszenierungen und Virtualisierungen dieses Wunsches nach Grenzenlosigkeit. Viele Aktivitäten älter werdender Menschen haben vor allem das Ziel, dieses Verlangen nach unbegrenztem Leben zu realisieren und »in vollen Zügen« zu genießen: Nicht wenige wollen noch die Wunder der Natur und fremder Kulturen in Erfahrung bringen oder sind auf Kunst- und Kulturreisen unterwegs. Andere bevorzugen Fernsehinszenierungen, in denen es so romantisch zugeht, wie sie es nie im eigenen Leben kannten; in der Dramatik und Sentimentalität virtueller Liebesgeschichten befriedigen sie ihren Wunsch nach einem Second Life. Die Vorstellung, selbst keinen Zugang mehr zu einem Leben in seiner ganzen Vielfalt und Fülle zu haben, ist zutiefst beängstigend und deprimierend. Darum wird von Alters her die Grenze des Sterben und des Todes mit der Fantasie der Unsterblichkeit der Seele und eines Lebens nach dem Tod bzw. einer Reinkarnation entgrenzt.
    Welche Abhängigkeiten auch immer durch den Wunsch nach Grenzenlosigkeit geschaffen werden, sie sollen unter keinen Umständen von den Entgrenzten und ihrer Umwelt wahrgenommen werden. Wo das Erleben von Grenzen beseitigt oder ausgeblendet wird, um Grenzenlosigkeit herzustellen, geht diese nicht nur mit Abhängigkeiten einher, sondern auch mit der Verleugnung der Abhängigkeit und einem entsprechenden Pathos grenzenloser Freiheit. Dieses zeigt sich am eindrücklichsten in einem kontraphobischen Verhalten gegenüber möglichen Grenzen und Einschränkungen: Entgrenzte Menschen suchen das Risiko, fordern das Glück heraus, sehen alles als Spiel an und kümmern sich weder um ein Gestern noch um ein Morgen.
    Das im ersten Kapitel gezeichnete Psychogramm von Michael Jackson, die Bedeutung die »Neverland« für die Entwicklung seiner Abhängigkeitserkrankung hatte, aber auch die verleugnenden
Reaktionen seiner Fangemeinde auf seine Abhängigkeitserkrankung sind eine eindrucksvolle Illustration der Verleugnung der Abhängigkeit des Abhängigkeitskranken. Konstantin Wecker, der 1995 in aussichtsloser Drogenabhängigkeit durch seine Verhaftung gewaltsam auf Entzug gesetzt wurde, beschrieb zehn Jahre später in dem Beitrag »Es gibt ein Leben vor dem Tod« die Verleugnung der Abhängigkeit so: »Ich hatte mich aufgegeben, bestritt das noch großmäulig vor mir selbst und anderen, steuerte jedoch mit zynischem Gleichmut dem Ende zu. (…) Ich hatte jeden Bezug zur Realität meines Ichs in der mich umgebenden Realität verloren. Das will nicht sagen, dass meine Ideen, Gedanken und Bilder, die ich in mir erzeugte, nicht real gewesen wären, sie waren jedenfalls bedrohlicher als jede Wirklichkeit zuvor. Aber eben nur noch mein Innen war existent und völlig abgeschnitten von der Außenwelt.« (Wecker 2006, S. 63.)
    Solche Lebenssituationen stellen allerdings den Extremfall dar und sollten nicht den Blick verstellen für die heute zunehmenden Realisierungsweisen inszenierten und virtualisierten Selbst- und Beziehungserlebens im Alltag. Mit ihnen wird immer auch versucht, das begrenzte menschliche Vermögen und entwicklungspsychologisch vorgegebene Grenzen zu beseitigen. Psychische Eigenkräfte sollen ersetzt werden und machen den Menschen zur Marionette gemachten Vermögens. Entwicklungspsychologisch bedingte Grenzen können nur überschritten und verwandelt (verinnerlicht), nicht aber definitiv beseitigt werden. Wer deshalb beim Überschreiten
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