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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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um und sah in dem Garten gegenüber ein etwa fünfzehn- oder sechzehnjähriges Mädchen. Sie war klein, hatte kurze glatte Haare und trug eine bernsteinfarbene Sonnenbrille mit dunklen Gläsern und ein hellblaues Adidas-T-Shirt, dessen Ärmel an den Schultern abgeschnitten waren. Ihre schmalen Arme, die darunter hervorschauten, waren für Anfang Mai ziemlich braungebrannt. Ihre eine Hand steckte in der Tasche ihrer Shorts, mit der anderen stützte sie sich etwas wackelig auf einem hüfthohen Bambustor ab.
    »Heiß, was?«, sprach sie mich an.
    »Ja, heiß«, antwortete ich.
    Oh je, schon wieder, dachte ich. Ich scheine den ganzen Tag von Frauen angesprochen zu werden.
    »Haben Sie eine Zigarette?«, fragte mich das Mädchen. Ich holte aus meiner Hosentasche eine Schachtel Hope hervor und reichte sie ihr. Sie zog ihre Hand aus der Tasche, nahm sich eine Zigarette und steckte sie, nachdem sie sie einen Augenblick neugierig betrachtet hatte, in den Mund. Ihr Mund war klein und ihre Oberlippe wölbte sich ein bisschen nach oben. Ich gab ihr mit einem Streichholz Feuer. Als sie sich vorlehnte, konnte ich ihr Ohr betrachten. Es war ein weiches und hübsches Ohr, das wirkte, als sei es eben erst vollendet worden. Auf seiner feinen Umrandung schimmerte ein zarter Flaum.
    Mit geübter Geste blies sie den Rauch genüsslich durch ihre Lippen und blickte dann, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen, zu mir herauf. Auf den Gläsern ihrer Sonnenbrille sah ich die zweifache Reflexion meines Gesichts. Die Gläser waren so dunkel und noch dazu verspiegelt, dass ich ihre Augen dahinter nicht erkennen konnte.
    »Sind Sie aus der Nachbarschaft?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete ich und wollte gerade in die Richtung unseres Hauses zeigen, aber ich war mir nicht mehr sicher, wo es sich genau befand. Der Weg hatte mich um zu viele Biegungen und Ecken geführt. Ich zeigte daher einfach in irgendeine Richtung. Es machte eh keinen großen Unterschied.
    »Was haben Sie denn die ganze Zeit da gemacht?«
    »Ich habe meine Katze gesucht. Sie ist schon drei, vier Tage nicht mehr nach Hause gekommen«, antwortete ich, während ich meine verschwitzten Handflächen an meiner Hose abwischte. »Anscheinend ist die Katze hier in der Gegend gesehen worden.«
    »Was ist das für eine Katze?«
    »Ein großer Kater. Braun gestreift, mit einer abgeknickten Schwanzspitze.«
    »Wie heißt er?«
    »Wie er heißt?«
    »Der Name der Katze! Er hat doch einen Namen, oder?«, sagte sie, wobei sie hinter ihrer Sonnenbrille die ganze Zeit in meine Augen starrte – oder zumindest glaubte ich, dass sie es tat.
    »Noboru«, antwortete ich. »Noboru Watanabe.«
    »Ziemlich schicker Name für eine Katze.«
    »Mein Schwager heißt so. Wir haben ihn aus Spaß so genannt, weil er ihm irgendwie ähnelt.«
    »Inwiefern ähnelt?«
    »Die Art, wie er sich bewegt, wie er läuft, und der Blick, wenn er müde ist, so was eben.«
    Das Mädchen lächelte zum ersten Mal. Sie wirkte auf einmal viel kindlicher als beim ersten Eindruck. Die leicht nach oben gewölbte Oberlippe stand beim Lächeln in einem seltsamen Winkel vor.
    Streicheln Sie mich , glaubte ich eine Stimme zu hören. Aber das war die Stimme der Frau am Telefon. Nicht die des Mädchens. Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.
    »Eine braun gestreifte Katze mit einer abgeknickten Schwanzspitze«, wiederholte sie wie zur Bestätigung. »Trägt sie ein Halsband oder so was?«
    »Ein schwarzes Flohhalsband«, antwortete ich.
    Mit ihrer einen Hand auf das Holztor gestützt, dachte sie zehn oder fünfzehn Sekunden lang nach. Dann schnippte sie den kurzen Rest ihrer Zigarette auf den Boden vor meine Füße.
    »Können Sie sie für mich austreten? Ich bin barfuß.«
    Ich trat die Zigarette sorgfältig mit meinem Tennisschuh aus.
    »Könnte sein, dass ich Ihre Katze gesehen habe.« Sie sprach langsam und artikulierte jedes Wort deutlich. »Ob sie einen abgeknickten Schwanz hatte, habe ich allerdings nicht gesehen, aber es war eine große braune Tigerkatze, und ich glaube, sie trug ein Halsband.«
    »Wann hast du sie gesehen?«
    »Ja, wann war das? Ich habe sie ein paar Mal gesehen. Ich sonne mich fast jeden Tag hier im Garten und kann daher die Tage nicht richtig auseinanderhalten, aber es muss vor drei oder vier Tagen gewesen sein. Unser Garten wird von den Katzen der Nachbarschaft als Durchgang benutzt, und dauernd laufen alle möglichen Katzen hier vorbei. Sie kommen durch den Zaun von Suzukis,
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