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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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hätte?«
    Ich dachte darüber nach. »Weiß ich nicht«, antwortete ich. Vier Brüste ? Dieses Gespräch schien kein Ende zu nehmen. Ich entschloss mich, das Thema zu wechseln.
    »Wie alt bist du?«
    »Sechzehn«, sagte sie. »Gerade sechzehn geworden. Mein erstes Jahr auf dem Gymnasium.«
    »Aber du fehlst in der Schule?«
    »Wenn ich lange laufe, tut mein Bein noch weh. Auch neben meinem Auge habe ich eine Verletzung. Die Schule ist ziemlich streng, wissen Sie, und wenn sie herausfänden, dass ich vom Motorrad gefallen bin und mich verletzt habe, würden sie sonst was mit mir machen … deswegen bin ich lieber krank. Ich könnte auch ein ganzes Jahr aussetzen. Mir liegt nicht viel daran, ins zweite Jahr versetzt zu werden.«
    »Hm«, meinte ich.
    »Aber, um wieder auf das Gespräch von eben zurückzukommen, ein Mädchen mit einem sechsten Finger würden Sie heiraten, sagten Sie, aber vier Brüste sind Ihnen unangenehm.«
    »Unangenehm habe ich nicht gesagt. Ich sagte: Ich weiß es nicht .«
    »Warum wissen Sie es nicht?«
    »Ich kann es mir nicht richtig vorstellen.«
    »Aber sechs Finger können Sie sich vorstellen, oder?«
    »Irgendwie ja.«
    »Worin besteht der Unterschied? Zwischen sechs Fingern und vier Brüsten?«
    Ich dachte darüber wieder eine Weile nach, aber ich wusste nicht, wie ich es richtig erklären könnte.
    »Meinen Sie, dass ich zu viele Fragen stelle?«, fragte sie. Sie guckte hinter ihrer Sonnenbrille zu mir herüber.
    »Sagt man dir das manchmal?«
    »Manchmal, ja.«
    »Fragen stellen ist ja nichts Schlechtes. Wenn man Fragen stellt, bringt man den anderen zum Nachdenken.«
    »Aber die meisten Leute denken nicht über das nach, was ich sie frage«, meinte sie und sah auf ihre Zehenspitzen. »Sie antworten einfach nur irgendwas.«
    Ich schüttelte vage den Kopf und sah wieder zum Katzenpfad hinüber. Was zum Teufel mache ich hier überhaupt, dachte ich. Bis jetzt hatte sich keine einzige Katze blicken lassen.
    Ich verschränkte meine Arme über der Brust und schloss für zwanzig oder dreißig Sekunden die Augen. Mit geschlossenen Augen dasitzend, spürte ich, wie sich an einigen Stellen meines Körpers Schweißperlen bildeten. Auf meiner Stirn, unter der Nase und am Hals gab es ein komisches Gefühl, als ob man nasse Federn oder irgendetwas auf mich gelegt hätte, und mein T-Shirt klebte schlaff auf meiner Brust wie eine Fahne bei Windstille. Mit einer eigentümlichen Schwere fiel das Licht der Sonne auf mich. Wenn das Mädchen sein Colaglas bewegte, klingelte das Eis wie Kuhglocken.
    »Schlafen Sie ruhig, wenn Sie müde sind. Wenn Ihre Katze auftaucht, wecke ich Sie«, sagte das Mädchen leise.
    Ich nickte schweigend mit geschlossenen Augen.
    Eine Weile gab es rundherum kein einziges Geräusch. Auch die Taube und der Aufziehvogel waren irgendwohin verschwunden. Kein Wind wehte und noch nicht einmal das Auspuffgeräusch der Autos war zu hören. Ich dachte die ganze Zeit an die Frau am Telefon. Kannte ich diese Frau womöglich doch ?
    Ich konnte mich nicht an sie erinnern. Es war wie die Szene auf einem Bild von de Chirico: Nur der lange Schatten einer Frau überquerte die Straße. Die wirkliche Person aber befand sich außerhalb meiner Bewusstseinssphäre. In meinen Ohren klingelte es unablässig.
    »He, schlafen Sie?«, fragte sie mit kaum hörbarer Stimme.
    »Nein, ich schlafe nicht«, antwortete ich.
    »Darf ich etwas näher kommen? Mir ist es angenehmer, leise zu sprechen.«
    »Wenn du möchtest«, sagte ich mit geschlossenen Augen.
    Ich spürte, wie sie ihren Liegestuhl zur Seite schob und ihn dicht neben meinen stellte. Ich hörte das trockene Klacken , als die Holzrahmen aneinanderstießen.
    Seltsam, dachte ich. Mit geschlossenen Augen hört sich ihre Stimme ganz anders an. Was in aller Welt geschah bloß mit mir? Ich erlebte so etwas zum ersten Mal.
    »Darf ich Ihnen etwas erzählen?«, fragte sie. »Ich spreche auch ganz leise, und Sie brauchen nicht zu antworten und dürfen sogar dabei einschlafen.«
    »Gut«, sagte ich.
    »Dass die Menschen sterben, ist aufregend, nicht?«, begann sie.
    Sie sprach direkt neben meinem Ohr, und ihre Worte drangen zusammen mit ihrem warmen und feuchten Atem sanft in meinen Körper ein.
    »Wieso?«, fragte ich.
    Sie legte einen Finger auf meine Lippen, als wolle sie sie versiegeln.
    »Keine Fragen«, sagte sie. »Ich möchte jetzt nichts gefragt werden. Und öffnen Sie nicht Ihre Augen. Verstanden?«
    Ich bejahte ungefähr genauso leise, wie sie
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