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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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einmal brauche, ist eine neue Arbeit. Und ich muss meinen neuen Lebensrhythmus finden.
    Doch als ich aufs Wohnzimmersofa zurückkehrte und in dem Roman von Len Deighton las, den ich mir aus der Bücherei ausgeliehen hatte, geriet ich beim bloßen Anblick des Telefons ins Grübeln: Was das wohl war, wovon diese Frau behauptete, dass »man es in zehn Minuten versteht«? Was kann man denn in zehn Minuten verstehen ?
    Wenn ich es mir recht überlegte, hatte die Frau gleich zu Anfang die Zeit auf genau zehn Minuten festgelegt. Sie schien sich mit der Bestimmung dieser begrenzten Zeit sehr sicher zu sein. Neun Minuten wären vielleicht zu kurz und elf Minuten schon wieder zu lang. Genauso wie Spaghetti al dente  …
    Bei diesen Gedanken kam mir die Geschichte des Romans abhanden, weshalb ich mich dazu entschloss, etwas Gymnastik zu machen und dann meine Hemden zu bügeln. Immer wenn ich etwas verwirrt bin, bügele ich Hemden. Es ist eine alte Gewohnheit von mir.
    Den Bügelvorgang eines Hemdes unterteile ich in insgesamt zwölf Schritte. Ich beginne mit (1) dem Kragen (Vorderseite) und ende mit (12) den Manschetten des linken Ärmels. Von diesem System weiche ich niemals ab. Ich bügele immer in der gleichen Reihenfolge, wobei ich jeden einzelnen Schritt mitzähle. Wenn ich das nicht tue, klappt das Bügeln nicht richtig.
    Ich bügelte also drei Hemden, erfreute mich an dem Zischen meines Dampfbügeleisens und an dem besonderen Geruch heiß gewordener Baumwolle, und nachdem ich mich vergewissert hatte, dass auch alles glatt war, hängte ich die Hemden auf einem Bügel in den Schrank. Als ich das Bügeleisen ausgeschaltet und zusammen mit dem Bügelbrett verstaut hatte, fühlte sich mein Kopf schon ein bisschen klarer an.
    Ich war etwas durstig und wollte gerade in die Küche gehen, als von neuem das Telefon klingelte. Oh je, dachte ich. Ich schwankte, ob ich einfach in die Küche oder zurück ins Wohnzimmer gehen sollte, ging dann aber ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab. Wenn es wieder die Frau sein sollte, könnte ich sagen, dass ich gerade beim Bügeln sei, und einfach auflegen.
    Aber es war meine Frau. Die Uhr auf dem Fernseher zeigte halb zwölf.
    »Wie geht’s?«, fragte meine Frau.
    »Gut«, sagte ich erleichtert.
    »Was hast du gemacht?«
    »Gebügelt.«
    »War irgendwas?«, fragte sie. In ihrer Stimme klang eine leichte Spannung mit. Meine Frau weiß genau, dass ich nur bügele, wenn ich durcheinander bin.
    »Nein, nichts. Ich wollte bloß meine Hemden bügeln. Es ist nichts Besonderes«, sagte ich, setzte mich auf den Stuhl und nahm den Telefonhörer aus der linken in die rechte Hand. »Und du, rufst du wegen was Bestimmtem an?«
    »Ja, wegen einer Arbeit. Vielleicht gäbe es da einen kleinen Job für dich.«
    »Aha«, sagte ich.
    »Kannst du Gedichte schreiben?«
    »Gedichte?«, fragte ich überrascht zurück. Gedichte? Was denn für Gedichte?
    »Ein Zeitschriftenverlag, bei dem eine Bekannte von mir arbeitet, gibt ein Lyrikmagazin für junge Mädchen heraus, und sie suchen jemanden, der die eingesandten Beiträge auswählt und korrigiert. Außerdem möchten sie jeden Monat ein Gedicht für die erste Seite. Die Arbeit ist einfach und dafür nicht schlecht bezahlt. Natürlich ist es nur ein Job, aber wenn es gut läuft, kannst du vielleicht auch in der Redaktion mitarbeiten …«
    »Einfach?«, fragte ich. »Moment mal. Ich suche Arbeit in einem Rechtsanwaltsbüro. Wie kommst du auf so was wie Gedichte korrigieren?«
    »Aber du hast doch erzählt, dass du im Gymnasium irgendwas geschrieben hast.«
    »Das war in einer Zeitung. In der Schulzeitung unseres Gymnasiums. Ich habe alberne Artikel geschrieben, darüber, welche Klasse beim Fußballspiel gewonnen hat, oder dass der Physiklehrer die Treppe runtergefallen ist und ins Krankenhaus musste. Keine Gedichte. Ich kann keine Gedichte schreiben.«
    »Mit Gedichte meine ich Gedichte, wie sie Oberschülerinnen lesen. Es braucht nichts Besonderes zu sein. Du musst nicht gleich wie Allen Ginsberg schreiben. Es reicht, wenn du so schreibst, wie es gerade kommt.«
    »Ich kann absolut keine Gedichte schreiben, weder so, wie es gerade kommt, noch sonstwie«, sagte ich entschieden. Vollkommen undenkbar.
    »Na gut«, sagte meine Frau etwas enttäuscht. »Aber im juristischen Bereich tut sich doch anscheinend nichts.«
    »Es sind gerade mehrere Sachen im Gespräch, diese Woche müsste ich eine Antwort bekommen. Wenn das nicht klappen sollte, kann ich ja noch mal darüber
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