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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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sprach.
    Sie nahm ihren Finger von meinen Lippen und legte ihn auf mein Handgelenk.
    »Ich würde es gern einmal mit dem Skalpell aufschneiden. Keine Leiche, meine ich. Sondern diesen Klumpen Tod. Ich habe das Gefühl, als müsste es da irgendwo so etwas geben. Dumpf und weich wie ein Softball, mit gelähmten Nerven. Ich würde es gern aus dem Toten herausholen und aufschneiden. Immer überlege ich, wie es wohl innen aussieht. Vielleicht gibt es da drinnen etwas Trockenes und Hartes, wie Zahnpasta, die in der Tube eingetrocknet ist? Meinen Sie nicht? Nein, Sie brauchen nicht zu antworten. Außen ist alles ganz breiig, aber je tiefer man dringt, desto fester wird es. Deswegen schneide ich zuerst die Haut auf, hole den ganzen Klumpen heraus und entferne dann das Breiige mit dem Skalpell und einer Art Spatel. Innen wird es langsam immer fester, bis ein kleiner Kern übrigbleibt. Klein wie eine Kugel in einem Kugellager und ganz hart. Glauben Sie nicht auch?«
    Sie hustete etwas.
    »In letzter Zeit denke ich ständig darüber nach. Bestimmt, weil ich jeden Tag so viel Zeit habe. Ganz sicher. Wenn ich viel Zeit habe, schweifen meine Gedanken immer ab. Manchmal so weit, dass ich ihnen nicht mehr richtig folgen kann.«
    Sie nahm ihren Finger von meinem Handgelenk, griff nach ihrem Glas und trank es aus. Am Klang der Eiswürfel erkannte ich, dass es leer war.
    »Ganz ruhig, ich pass schon auf die Katze auf. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wenn sich Noboru Watanabe blicken lässt, sage ich Bescheid. Sie können Ihre Augen ruhig zu lassen. Noboru Watanabe spaziert bestimmt jetzt irgendwo hier herum. Alle Katzen gehen denselben Weg. Er taucht sicher gleich auf. Wir können ihn uns ja vorstellen, während wir warten. Noboru Watanabe kommt jetzt näher . Er streift durchs Gras, kriecht unter dem Zaun durch, bleibt irgendwo stehen und schnuppert an den Blumen, er kommt immer näher und näher. Versuchen Sie, ihn sich vorzustellen.«
    Ich gehorchte und versuchte, mir die Gestalt der Katze vorzustellen, doch das Einzige, was mir in den Sinn kam, war das verschwommene Bild einer Katze, die aussah, als habe man sie bei Gegenlicht aufgenommen. Das starke Sonnenlicht drang durch meine Augenlider und löste das Dunkel in unbeständige Flecken auf. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht genau an die Katze erinnern. Der Noboru Watanabe, den ich vor mir sah, wirkte verzerrt und unnatürlich wie ein misslungenes Porträt. Es fing zwar gewisse Eigenheiten von ihm ein, aber das Wesentliche fehlte vollkommen. Noch nicht einmal an die Art, wie er lief, erinnerte ich mich.
    Sie legte ihren Finger erneut auf mein Handgelenk und zeichnete diesmal sanft eine Art Muster darauf. Eine merkwürdige Figur ohne feste Formen. Und während sie malte, war mir, als ob gleichzeitig eine vollkommen anders geartete Dunkelheit sich in mein Bewusstsein senkte. Bestimmt schlafe ich gleich ein, dachte ich. Ich wollte nicht, aber ich schien es durch nichts mehr aufhalten zu können. In dem sanft geschwungenen Liegestuhl aus Segeltuch fühlte sich mein Körper ungewöhnlich schwer an.
    Inmitten dieser Dunkelheit kamen mir nur die vier Pfoten von Noboru Watanabe in den Sinn. Vier leise braune Tatzen, unter denen eine Art weiches Gummipolster klebte. Lautlos tapsten sie über irgendein Grundstück.
    Was für ein Grundstück ? Wo ?
    Ich wusste es nicht.
    Meinen Sie nicht, dass sich irgendwo in Ihrem Kopf ein fataler blinder Fleck befinden könnte?, hatte sie leise gesagt.
    Als ich aufwachte, war ich allein. Das Mädchen auf dem Liegestuhl dicht neben mir war verschwunden. Das Handtuch, die Zigaretten und die Zeitschriften lagen noch genauso da, aber das Colaglas und der Radio-Kassettenrekorder fehlten.
    Die Sonne neigte sich gen Westen, und der Schatten der Kiefernzweige bedeckte meinen Körper bis zu den Knöcheln. Die Uhr zeigte zwanzig vor vier. Ich schüttelte ein paar Mal meinen Kopf, als wäre er eine leere Dose, stand auf und schaute mich um. Alles um mich herum sah genauso aus wie vorher. Der weite Rasen, der ausgetrocknete Teich, der Zaun, der steinerne Vogel, die Goldrute und die Fernsehantenne. Keine Katze. Und kein Mädchen.
    Ich setzte mich auf ein schattiges Stück Rasen, und während ich mit der Handfläche über die grünen Gräser strich, beobachtete ich den Katzenpfad und wartete auf das Mädchen. Es vergingen zehn Minuten, aber weder die Katze noch das Mädchen ließen sich blicken. Kein Hauch einer Bewegung um mich herum. Ich
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