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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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Radiorekorder, aus dem Wagner erscholl. Ob es sich für ein KP -Mitglied geziemt, Wagner zu hören, weiß ich nicht.
    Tantchen schaute unverwandt auf ihre Croissants und den Krapfen. Etwas stimmte nicht. War unnatürlich. Croissants und Krapfen durften offenbar auf keinen Fall Seite an Seite beieinander liegen. Sie schien zu spüren, dass hier, ja, unverträgliche Ideen miteinander stritten. Das beladene Tablett schwankte in ihrer Hand und klickte wie ein defekter Kühlschrankthermostat. Natürlich schwankte und klickte das Tablett nicht wirklich. Es schwankte gewissermaßen – metaphorisch. Klick.
    »Ich leg sie um!« sagte mein Kumpel. Die Mischung aus Hunger und Wagner und Tantchen hatte seine nervöse Spannung verletzlich gemacht wie Pfirsichhaut. Ich schüttelte stumm den Kopf.
    Derweil ließ Tantchen das Tablett in ihrer Hand wieder eine dostojewskische Hölle durchwandern. Zunächst trat der Krapfen auf die Tribüne und hielt eine Rede an das römische Volk, die man durchaus als bewegend bezeichnen konnte. Herrliche Phraseologie, perfekte Rhetorik, tragender Bariton … alle klatschten, Applaus, Applaus. Danach gingen die Croissants aufs Podium und redeten irgendeinen Unsinn bezüglich Verkehrsampeln. Linksabbieger fahren bei grünem Licht für den Geradeausverkehr langsam vor und biegen erst ab, nachdem sie sich vergewissert haben, dass kein Gegenverkehr herrscht. Etwas in der Art. Das römische Volk wusste nicht recht, wovon die Rede war, klatschte aber, denn es hörte sich kompliziert an: Applaus, Applaus. Der Beifall für die Croissants war ein bisschen lauter. Und der Krapfen wurde wieder zurückgelegt.
    Auf Tantchens Tablett herrschte nun Perfektion von extremer Simplizität: zwei Croissants.
    Und dann verließ Tantchen die Bäckerei.
    Nun waren wir an der Reihe.
    »Wir haben Hunger wie verrückt«, gestand ich dem Bäcker, das Messer immer noch hinter dem Rücken verborgen. »Und keinen Heller.«
    »Aha«, nickte der Bäcker.
    Auf der Theke lag ein Nagelknipser; mein Kumpel und ich starrten ihn unverwandt an. Er war von so gigantischen Ausmaßen, dass man damit die Krallen eines Geiers hätte stutzen können. Wahrscheinlich ein Scherzartikel.
    »Wenn ihr solchen Hunger habt, dann esst Brot«, sagte der Bäcker.
    »Wir haben aber kein Geld.«
    »Ich hab’s gehört«, sagte der Bäcker gelangweilt. »Geld brauch ich keins, esst, so viel ihr wollt.«
    Ich sah noch einmal auf den Nagelknipser. »Hören Sie, wir führen Böses im Schilde.«
    »Genau!«
    »Und können Almosen deshalb nicht nehmen.«
    »Richtig.«
    »Verstehen Sie?«
    »Verstehe«, sagte der Bäcker und nickte wieder. »Machen wir’s also folgendermaßen: Ihr esst Brot, so viel ihr wollt, und ich verfluche euch dafür. Einverstanden?«
    »Verfluchen? Wie zum Beispiel?«
    »Ein Fluch bringt ständige Ungewissheit. Im Gegensatz zu einem Fahrplan beispielsweise.«
    »Moment mal«, warf mein Kumpel ein, »das gefällt mir nicht. Fluch? Nein, danke. Wir legen dich um, und basta!«
    »Halt, halt«, sagte der Bäcker. »Umgebracht will ich nicht werden.«
    Mein Kumpel: »Und ich nicht verflucht.«
    Ich: »Irgendeinen Tausch brauchen wir aber.«
    Eine Weile starrten wir schweigend den Nagelknipser an.
    »Ich hab’s«, begann der Bäcker schließlich. »Mögt ihr Wagner?«
    »Nein«, sagte ich.
    »Hilfe«, sagte mein Kumpel.
    »Mögt ihn, und ich gebe euch Brot!«
    Das war die Story vom Missionar und den Eingeborenen, in Reinkultur, aber wir gingen sofort darauf ein. Besser als ein Fluch war es allemal.
    »Ich mag ihn«, sagte ich.
    »Klar, gute Musik«, sagte mein Kumpel.
    Und dann hörten wir Wagner und stopften uns mit Brot voll.
    »›Tristan und Isolde‹«, las uns der Bäcker vom Kassettenbegleittext vor, »der leuchtende Stern am Himmel der Musikgeschichte, erschien 1859, ein zum Verständnis des späteren Wagner unerlässliches Schlüsselwerk.«
    »Mmhmmhmm.«
    »Mampf.«
    »Tristan, Neffe des Königs von Cornwall, will die Verlobte seines Oheims, Prinzessin Isolde, heimführen, verliebt sich jedoch auf dem Schiff während der Heimreise selbst in sie. Das wunderschöne Cello- und Oboen-Thema der Eröffnung symbolisiert die Liebe der beiden.«
    Zwei Stunden später schieden wir voneinander, allseits zufrieden.
    »Morgen hören wir ›Tannhäuser‹«, sagte der Bäcker.
    Zu Hause angekommen, war das Nichts in uns völlig verschwunden. Und sachte, wie auf einem sanften Hang ins Rollen gebracht, setzte die Fantasie wieder ein. Klick.

Der
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