Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
meinem Kopf, in meinem Körper, in meiner Existenz eine Art verloren gegangene unterirdische Welt, die mein Leben ein wenig verschiebt.
    Nein, nicht nur ein wenig . Derart beträchtlich , dass es sich nicht wiedergutmachen ließ.
    »Ich liege jetzt im Bett«, sagte sie. »Ich habe gerade geduscht und habe nichts an.«
    Ach du meine Güte, dachte ich. Nichts an . Hört sich an wie ein Porno.
    »Oder soll ich lieber ein Höschen anziehen? Oder vielleicht Strümpfe? Macht Sie das an?«
    »Das ist mir egal. Machen Sie, was Sie wollen«, sagte ich. »Tut mir leid, aber solche Telefongespräche sind nicht mein Ding.«
    »Es sind nur zehn Minuten. Kleine zehn Minuten. Zehn Minuten sind kein so schrecklicher Verlust, oder? Mehr verlange ich ja nicht. Es gibt doch auch so was wie Freundschaft . Aber beantworten Sie bitte meine Frage. Ist es besser nackt? Oder soll ich mir lieber was anziehen? Ich habe alles Mögliche, Strapse oder …«
    Strapse ? Ich glaubte zu spinnen. Welche Frau trägt denn heutzutage noch Strapse? Höchstens Penthouse-Fotomodelle vielleicht.
    »Bleiben Sie nackt. Und Sie brauchen sich auch nicht zu bewegen«, sagte ich.
    Vier Minuten.
    »Mein Schamhaar ist noch feucht«, sagte sie. »Ich habe es nicht richtig abgetrocknet. Deswegen ist es ganz feucht. Warm und feucht. Und meine Schamhaare sind ganz weich. Schwarz und weich. Fühlen Sie mal.«
    »Hören Sie, es tut mir leid, aber …«
    »Darunter ist es noch viel wärmer. Wie warme Buttercreme. Ganz warm. Wirklich. Und in welcher Position, glauben Sie, liege ich gerade? Mein rechtes Bein ist aufgestellt, und mein linkes Bein habe ich zur linken Seite weggestreckt. Wenn ich eine Uhr wäre, wäre es jetzt etwa fünf nach zehn.«
    Am Tonfall ihrer Stimme merkte ich, dass sie dies nicht erfand. Sie hat ihre Beine wirklich in einem Winkel von fünf nach zehn geöffnet, und ihre Vagina ist warm und feucht.
    »Streicheln Sie meine Lippen . Ganz langsam. Öffnen Sie sie. Langsam. Streicheln Sie sie ganz zart mit den Seiten Ihrer Finger. Ja, ganz langsam. Und mit Ihrer anderen Hand berühren Sie meine linke Brust. Streicheln Sie sie ganz sanft, erst unten, dann oben, kneifen Sie in meine Brustwarzen, behutsam. Machen Sie es immer wieder. Bis ich komme .«
    Ohne etwas zu sagen, hängte ich auf. Ich legte mich aufs Sofa, starrte an die Decke und rauchte eine Zigarette. Die Uhr hatte fünf Minuten und dreiundzwanzig Sekunden gestoppt. Als ich meine Augen schloss, überfiel mich eine Dunkelheit, als wären Farben in verschiedenen Schattierungen ohne System einfach übereinander gemalt.
    Warum bloß, dachte ich. Warum lassen sie mich nicht einfach in Ruhe?
    Ungefähr zehn Minuten später klingelte wieder das Telefon, aber diesmal nahm ich nicht ab. Es klingelte fünfzehnmal, dann hörte es auf. Nachdem das Klingeln verstummt war, füllte ein tiefes Schweigen den Raum, als habe die Schwerkraft ihr Gleichgewicht verloren. Ein tiefes kühles Schweigen wie von Steinen, die seit fünfzigtausend Jahren in einem Gletscher eingeschlossen sind. Fünfzehnmal Telefonklingeln hatte die Atmosphäre um mich herum vollkommen verändert.
    Um kurz vor zwei stieg ich über die Ziegelmauer von unserem Garten in das »Gässchen«.
    Obwohl wir es »Gässchen« nennen, ist es eigentlich kein »Gässchen«. Ehrlich gesagt ist es nichts, was man irgendwie bezeichnen könnte. Genau genommen ist es noch nicht einmal ein Weg. Bei einem Weg gibt es einen Eingang und einen Ausgang, er bezeichnet eine Strecke, die an einen bestimmten Ort führt.
    Dieses »Gässchen« aber hatte weder einen Eingang noch einen Ausgang, und an seinen Enden stieß man auf eine Ziegelmauer und auf einen Stacheldrahtzaun. Es war auch keine Sackgasse. Denn bei einer Sackgasse gibt es zumindest einen Eingang. Die Leute aus der Umgebung nennen diesen Pfad bloß der Einfachheit halber »Gässchen«.
    Das »Gässchen« windet sich ungefähr zweihundert Meter zwischen den Hintergärten der Häuser entlang. Es ist etwas über einen Meter breit, aber da überall Zäune hineinragen und Gerümpel auf dem Weg liegt, kann man sich an mehreren Stellen nur seitlich durchzwängen.
    Erzählungen zufolge – mir hatte das mein netter Onkel berichtet, der uns unser Haus zu einem Spottpreis vermietet – hatte das »Gässchen« früher einmal einen Eingang und einen Ausgang besessen und als eine Art Abkürzung zwischen zwei Straßen gedient. Doch seit der Zeit des enormen wirtschaftlichen Aufschwungs, als auf jedem ehemals unbebauten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher