Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
klingelte das Telefon. Es war ein sehr nervöses Klingeln, fand ich. Ich ließ die halb geöffnete Plastikpackung mit Tofu auf dem Küchentisch liegen, ging ins Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.
    »Und, sind Sie fertig mit Ihren Spaghetti?« Es war wieder die Frau.
    »Ja«, erwiderte ich. »Aber jetzt muss ich die Katze suchen gehen.«
    »Das kann zehn Minuten warten, oder? Die Suche nach der Katze.«
    »Also gut, zehn Minuten.«
    Warum mache ich das bloß, fragte ich mich. Warum muss ich mich zehn Minuten mit irgendeiner wildfremden Frau unterhalten?
    »Nun, wir werden uns verstehen, nicht?«, sagte die Frau leise. Ich konnte spüren, wie sie – wer sie ist, weiß ich nicht – es sich am anderen Ende der Leitung in einem Stuhl bequem machte und die Beine übereinanderschlug.
    »Na, ich weiß nicht«, sagte ich. »Manchmal ist man zehn Jahre zusammen und versteht sich noch nicht.«
    »Wollen Sie es versuchen?«, fragte sie.
    Ich nahm meine Armbanduhr ab, stellte die Stoppuhrfunktion ein und drückte auf den Knopf. Die digitalen Ziffern tickten von eins bis zehn. Schon zehn Sekunden.
    »Warum gerade ich?«, fragte ich. »Warum haben Sie nicht jemand anderen angerufen?«
    »Das hat seine Gründe.« Sie sprach die Worte sorgfältig aus, als kaue sie langsam auf etwas Essbarem herum. »Ich kenne Sie nämlich.«
    »Wann, wo?«, fragte ich.
    »Irgendwann, irgendwo«, sagte sie. »Das spielt keine Rolle. Was zählt, ist jetzt . Nicht wahr? Außerdem verlieren wir nur Zeit, wenn wir darüber sprechen. Ich habe auch nicht ewig Zeit .«
    »Beweisen Sie es. Geben Sie mir einen Beweis, dass Sie mich kennen.«
    »Zum Beispiel?«
    »Wie alt bin ich?«
    »Dreißig«, antwortete die Frau prompt. »Dreißig und zwei Monate. Reicht das?«
    Ich war perplex. Diese Frau kennt mich also wirklich. Aber sosehr ich auch überlegte, ich konnte ihre Stimme nicht einordnen. Es ist unmöglich, dass ich eine Stimme vergesse oder verwechsele. Bei Gesichtern und Namen passiert mir das manchmal, aber an Stimmen erinnere ich mich immer ganz genau.
    »Und versuchen Sie sich jetzt einmal vorzustellen, wer ich bin«, sagte sie verführerisch. »Was suggeriert Ihnen meine Stimme? Was für eine Frau bin ich? Gelingt es Ihnen? Das ist doch Ihre Stärke, oder?«
    »Keine Ahnung«, sagte ich.
    »Versuchen Sie es mal«, sagte sie.
    Ich sah auf die Uhr. Erst eine Minute und fünf Sekunden. Ich seufzte resigniert. Ich hatte eingewilligt. Und einmal angefangen, musste ich bis zum Ende durchhalten. Ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf die Stimme, so wie ich es früher oft getan hatte – sicherlich war das, wie sie gesagt hatte, meine Stärke.
    »Zwischen fünfundzwanzig und dreißig, Universitätsabschluss, geboren in Tōkyō, Kindheit im oberen Mittelklassemilieu«, sagte ich.
    »Unglaublich«, sagte die Frau. Sie zündete sich neben dem Hörer mit einem Feuerzeug eine Zigarette an. Klang nach einem Cartier. »Machen Sie weiter.«
    »Ziemlich hübsch. Zumindest finden Sie das selbst. Aber Sie haben einen Komplex. Sie wären gerne größer, oder Ihre Brüste sind zu klein, so was in der Richtung.«
    »Ziemlich nah dran«, sagte sie kichernd.
    »Sie sind verheiratet. Aber es läuft nicht so gut. Es gibt Probleme. Eine Frau ohne Probleme ruft keine Männer an, ohne ihren Namen zu nennen. Aber ich kenne Sie nicht. Jedenfalls habe ich nie mit Ihnen gesprochen. Und trotz dieser Vorstellungen kann ich mir noch kein Bild von Ihnen machen.«
    »Meinen Sie?«, fragte sie leise, als würde sie einen weichen Keil in meinen Kopf treiben. »Sind Sie sich Ihrer Fähigkeiten so sicher? Meinen Sie nicht, dass sich irgendwo in Ihrem Kopf ein fataler blinder Fleck befinden könnte? Sonst hätten Sie es doch bis jetzt zu etwas mehr bringen können, finden Sie nicht? Ein Mann mit so einem guten Kopf und solchen Begabungen wie Sie!«
    »Sie überschätzen mich«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wer Sie sind. Ich bin jedenfalls nicht dieser großartige Mensch, für den Sie mich halten. Mir fehlt das Vermögen, etwas bis zu Ende durchzuführen. Deswegen gerate ich ja immer mehr auf Abwege.«
    »Ich habe mich aber in Sie verliebt. Das ist allerdings lange her.«
    »Also ist es eine alte Geschichte«, sagte ich.
    Zwei Minuten und dreiundfünfzig Sekunden.
    »So alt nun auch wieder nicht. Wir reden nicht von Vergangenheit.«
    »Doch, wir reden von Vergangenheit«, sagte ich.
    Blinder Fleck , dachte ich. Vielleicht ist es wirklich so, wie sie sagt. Vielleicht gibt es irgendwo in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher