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Der Elefant verschwindet

Titel: Der Elefant verschwindet
Autoren: Haruki Murakami
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was mache ich hier eigentlich mit meinen dreißig Jahren? Wäsche waschen, mir das Menü fürs Abendessen ausdenken und Katzen suchen.
    Früher, dachte ich, war ich ein ganz normaler Mensch mit leidenschaftlichen Wünschen. Ich hatte im Gymnasium die Biografie von Clarence Darrow gelesen und wollte unbedingt Anwalt werden. Auch meine Noten waren nicht schlecht. Im letzten Jahr des Gymnasiums kam ich bei der Wahl des »Erfolgversprechendsten« an die zweite Stelle meiner Klasse. Ich hatte sogar die Aufnahmeprüfung für die juristische Fakultät einer ziemlich renommierten Universität bestanden. Aber irgendwie hatte es dann einen Bruch gegeben.
    Ich stützte meine Ellbogen auf den Küchentisch, legte mein Kinn darauf und dachte nach. Seit wann hatte die Kompassnadel meines Lebens begonnen, in die falsche Richtung zu zeigen? Ich wusste es nicht. Mir fiel nichts ein, an dem ich es hätte festmachen können. Ich war in keiner politischen Bewegung gescheitert und nicht von der Universität enttäuscht worden, und ich hatte mich auch nicht übermäßig mit Mädchen eingelassen. Aus meiner Sicht lebte ich ein ganz normales Leben. Doch als ich bald darauf mein Studium abschloss, wurde mir klar, dass ich nicht mehr der Alte war.
    Wahrscheinlich war diese Kluft anfangs minimal und kaum wahrzunehmen gewesen. Aber im Lauf der Zeit war sie immer größer geworden und hatte mich schließlich an einen Punkt geführt, an dem ich mein eigentliches Ich nicht mehr erkannte. Wenn man unser Sonnensystem als Beispiel nimmt, befände ich mich jetzt ungefähr zwischen Saturn und Uranus. Noch ein kleines Stück, und ich müsste Pluto entdecken können. Und danach, dachte ich, was kommt eigentlich danach?
    Anfang Februar hatte ich in dem Rechtsanwaltsbüro, in dem ich die ganze Zeit angestellt gewesen war, gekündigt. Es hatte keinen besonderen Grund dafür gegeben, es war nicht so, dass mir die Arbeit nicht gefallen hätte. Auch wenn es zweifellos keine Arbeit war, die einem das Herz höher schlagen ließ, war doch mein Einkommen nicht schlecht und die Atmosphäre im Büro freundschaftlich.
    Meine Rolle war, um es kurz zu sagen, die eines ausgebildeten Laufburschen.
    Ich persönlich glaube, dass ich gute Arbeit leistete. Wenn ich das über mich selbst sage, mag das seltsam klingen, aber was die Durchführung meiner sogenannten praktischen Pflichten angeht, besitze ich durchaus Fähigkeiten. Ich habe eine schnelle Auffassungsgabe, bin flink, beschwere mich nicht und denke realistisch. Als ich erklärte, dass ich aufhören wollte, bot mir der Seniorpartner – also der Vater dieser von Vater und Sohn geführten Anwaltskanzlei – sogar eine Gehaltserhöhung an, damit ich bliebe.
    Aber schließlich kündigte ich. Warum ich dort aufgehört habe, weiß ich selbst nicht genau. Ich hatte weder einen bestimmten Wunsch noch eine Vorstellung davon, was ich danach machen wollte. Noch einmal zu Hause eingesperrt für das nächste Juraexamen zu büffeln schien mir zu mühselig, und außerdem wollte ich gar nicht unbedingt Anwalt werden.
    Als ich meiner Frau beim Abendessen eröffnete, dass ich mir überlegte, bei meiner Arbeit zu kündigen, antwortete sie bloß: »Hm.« Mir war nicht ganz klar, welche Bedeutung dieses »Hm« hatte, aber sie sagte nichts weiter und schwieg eine Weile.
    Als auch ich schwieg, meinte sie: »Wenn du aufhören möchtest, solltest du es tun. Es ist dein Leben, und du solltest es so leben, wie du möchtest.« Nach dieser kurzen Bemerkung nahm sie ihren Fisch in Angriff und verteilte die Gräten mit den Stäbchen auf dem Tellerrand.
    Meine Frau arbeitete als Bürokraft in einer Designschule, ihr Gehalt war nicht schlecht, und außerdem bekam sie noch ab und zu von befreundeten Redakteuren kleinere Aufträge für Illustrationen, die auch ganz passabel bezahlt waren.
    Ich könnte ein halbes Jahr Arbeitslosenversicherung beziehen. Wenn ich zu Hause bliebe und jeden Tag ordentlich die Hausarbeit erledigte, würden wir Extraausgaben für Restaurants oder Reinigung sparen, und unser Lebensniveau würde sich wahrscheinlich kaum ändern.
    Also kündigte ich.
    Um halb eins ging ich, wie jeden Tag, mit einer großen Segeltuchtasche über der Schulter einkaufen. Zuerst ging ich zur Bank und bezahlte die Gas- und Telefonrechnung, dann kaufte ich im Supermarkt für das Abendessen ein und aß zum Schluss bei McDonald’s einen Cheeseburger und trank einen Kaffee.
    Als ich, zu Hause angekommen, die Lebensmittel in den Eisschrank stopfte,
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