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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman
Autoren: Uwe Tellkamp
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in den Kneipen, auf den Dancefloors, die zu Lockung und Feindschaft gewölbten nackten Frauenwaden, hörte das Stöhnen in den Toiletten, wenn die DJs die Platten austrudeln ließen, hörte, wie die aufs äußerste gespannte Lust in den Stimmen der Frauen zerriß, Einladungen, die nicht mir galten, keine Leitern an den Wänden meiner Träume, was ich sehe, ist ein explodierter Versandhandel, oder ist es ein Supermarkt? Platzende Lichter, Reklamen, Unruhe, Dünung, Anspülen, Abspülen des Verkehrs; wenn ich durch die Straßen trieb, verloren im Sog, in der kreisenden Riesenschleuder, hellwach in den narkotisch glosenden Bars mit ihrer pflanzenhaft taktilen, musikumschwappten Sprache, dachte ich: damit es einen Beobachter gibt im unablässig sich fortzeugenden Geweb der Tage, ja, einen Beobachter, wiederholte ich trotzig. Patrick lachte. Du nimmst dich zu wichtig, Wiggo, du läufst die Straßen auf und ab und siehst dich dabei natürlich nicht in deinem Karstadt-Mantel, sondern in der schwarzen Kluft der Schwertkämpfer, der fernöstlichen Clint Eastwoods, gib’s zu, kannst dich mir ruhig anvertrauen. Ich hab auch manchmal solche Anwandlungen. Du zündest dir einen Zigarillo oder eine deiner Gauloises an, langsam und in Großaufnahme, oder dürfen Samurais nicht rauchen? Ich haßte Patrick in solchen Momenten, haßte seinen Spott, seine Ironie. Du bist mir zu pathetisch, Wiggo. Okay, du hast große Gefühle, aber man kann nicht immer Achterbahn fahren. Ich haßte ihn, dann fiel mir ein, daß er mit Dorothea zusammen war, Schwesterherz, was findest du an diesem Luftikus, ich schrieb nochTintenbriefe und wartete auf Antwort, vergeblich zumeist, schrieb drei, vier Briefe, dachte damit etwas Gutes zu tun, die Empfänger wenn nicht zu beglücken, lächerlicher Begriff, so doch zu erfreuen, absurde Hoffnung, in Wahrheit sorgte ich für schlechtes Gewissen, weil sie zu faul waren zum Zurückschreiben oder Angst hatten vor ihrem Stil, den sie meinem nicht gewachsen glaubten, dann riefen sie an und bedankten sich summarisch, das war natürlich das einfachste, Problem entsorgt, der lästige Kerl, der mich aus meiner Bequemlichkeit zu reißen versucht, mir meine Grenzen zeigt, abgewimmelt, es ist ja auch so schrecklich schwer, in vier Monaten eine halbe Stunde Zeit zu finden, um seine verdammte Schuldigkeit zu tun, sich einen Antwortbrief abzuquälen und sich wenigstens zu bedanken, und dann wundern sie sich, daß ich zurückhaltend werde, komisch, wie sie andeuten, nicht mehr gern ans Telefon gehe, Wiggo ist ein schwieriger Mensch, wir lieben nur die, die uns in Ruhe lassen, nichts von uns verlangen; ich verlangte Sondermarken auf der Post, man muß die Marken sorgfältig auswählen

[ PATRICK G. {...}] Wiggo, der hundertsechsundsiebzig Gedichte auswendig konnte. The lonely wolf. My heart is bleeding. Oh, this weltschmertz. Fünfzehn auf französisch, vier auf japanisch. Wiggo, der das Fenster öffnete, wenn er im Zimmer eine Biene sah. Er schob sie mit der Zeitung so lange vor sich her, bis sie den Weg nach draußen fand. Wenn es ihm schlechtging, legte er My Generation auf, Vinyl, The Who 1965, und spielte sie ab, bis die Gitarren staubig klangen. Hat er schon jemals aus vollem Herzen gelacht– lach mal, sagte Patrick zu mir, dieser Fernsehkomiker, an dem du einen Narren gefressen hast, Schwesterherz, vielleicht, weil er die Dinge nicht so bierernst nimmt wie du, wie du einmal zu mir sagtest, gereizt, wie ich dich sonst nicht kenne, doch, ich konnte lachen, auch als Patrick das macht Sinn sagte, – Das hat! Das hat Sinn! zischte ich und ballte die Fäuste, daß die Knöchel weiß wurden und er einen Schritt zurücktrat, ich konnte lachen, sogar über mich selbst, auch wenn es mich erboste; es waren die lichteren Momente, in denen ich mich von außen sah: ein arbeitsloser, nicht sonderlich gutaussehender Philosoph auf Stellen- und Partnerjagd, um den, glaubte er, alles in Bewegung geraten war, ein wohl befremdend wirkender Geselle, ich haßte Ironie, konnte sie nicht ausstehen, die Ironiker glauben an nichts, haben nichts, bezweifeln alles, tunken alles in die saure Soße ihrer scheinbar mit einem Lächeln versüßten Skepsis, geben alles der Lächerlichkeit preis, sind aber im Grund nur zynisch, Zyniker, lieber Patrick, brüllte ich, bauen keine Kathedralen, ich weiß, daß du Heine liebst, ich kann ihn nicht ausstehen, sowenig wie deinen Brecht, was ist das, Leitartikel mit Zeilenbruch, Binsenweisheiten zum Abnicken,
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