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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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Bedürfnis, seine jüngeren Töchter zu schützen. Er schien immer zu versuchen, sie vor Schaden zu bewahren – seit der Stunde ihrer Geburt, als Chiyo die Zweitgeborene, Miki, hatte fortbringen und dem Tod überlassen wollen. So verfuhr man mit Zwillingen, und in weiten Teilen des Landes hielt man sich vermutlich noch immer an diesen Brauch, denn man fand es unnatürlich, wenn Menschen Zwillinge gebaren. Dies war etwas, das man eher mit Tieren in Verbindung brachte, mit Katzen oder Hunden.
    Â»Sie mögen das grausam finden, Lord Takeo«, hatte Chiyo ihn gewarnt. »Aber es ist besser, jetzt zu handeln, als später die Schande und das Unglück zu erdulden, die Sie nach Ansicht der Leute als Vater von Zwillingen heimsuchen werden.«
    Â»Wie sollen die Leute je Aberglauben und Grausamkeit überwinden, wenn wir ihnen kein Vorbild sind?«, hatte er zornig erwidert, denn als jemand, der in die Gemeinschaft der Verborgenen hineingeboren worden war, war ihm das Leben eines Kindes mehr wert als alles andere. Er konnte nicht glauben, dass es Missfallen oder Unglück heraufbeschwören würde, wenn man das Leben eines Kindes verschonte.
    Doch im Nachhinein überraschte ihn die Macht dieses Aberglaubens. Selbst Kaede war nicht frei davon und ihr Verhalten gegenüber ihren jüngeren Töchtern spiegelte ihre Zwiespältigkeit. Sie hatte es lieber, wenn die beiden voneinander getrennt lebten, und genauso war esauch die meiste Zeit im Jahr. Normalerweise war immer eine der beiden beim Stamm, und Kaede hatte eigentlich nicht gewollt, dass beide an der Feier zur Volljährigkeit ihrer älteren Schwester teilnahmen, weil sie fürchtete, sie könnten Shigeko Unglück bringen. Doch Shigeko, die den Zwillingen gegenüber die gleichen Beschützerinstinkte hegte wie ihr Vater, hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden. Takeo war froh darüber, denn er war am glücklichsten, wenn die ganze Familie zusammenkam und bei ihm war. Er sah sie alle voller Zuneigung an und spürte, dass dieses Gefühl von etwas Leidenschaftlicherem überwältigt wurde: dem Verlangen, neben seiner Frau zu liegen und ihre Haut an der seinen zu spüren. Der Fechtkampf mit den Stangen hatte Erinnerungen daran geweckt, wie er sich damals in sie verliebt hatte, an das erste Mal, als sie in Tsuwano zur Übung gegeneinander gekämpft hatten, er als Siebzehnjähriger, sie als Fünfzehnjährige. Und in Inuyama, fast genau an dieser Stelle, hatten sie zum ersten Mal beieinandergelegen, getrieben von einer Leidenschaft, die Verzweiflung und Trauer entsprungen war. Die frühere Residenz, Iida Sadamus Schloss und der erste Nachtigallenboden waren beim Fall Inuyamas zerstört worden, doch Arai Daiichi hatte alles ganz ähnlich wiederaufgebaut und nun war Inuyama eine der berühmten Vier Städte in den Drei Ländern.
    Â»Die Mädchen sollten sich vor dem heutigen Abend noch einmal ausruhen«, sagte er, denn um Mitternacht fänden an den Schreinen langwierige Zeremonien statt, gefolgt vom Neujahrsfest. Sie würden nicht vor derStunde des Tigers schlafen. »Ich lege mich auch ein bisschen hin.«
    Â»Ich lasse Kohlenbecken ins Zimmer bringen«, sagte Kaede, »und komme gleich zu dir.«
    Als sie zu ihm kam, war das Tageslicht schon verblasst und die frühe Dämmerung des Winters war angebrochen. Trotz der Becken, in denen die Holzkohle glühte, war ihr Atem in der eiskalten Luft ein weißes Wölkchen. Sie hatte gebadet und ihre Haut roch nach dem Wasser, das mit Reiskleie und Aloe versetzt worden war. Unter dem gesteppten Wintergewand war ihr Körper warm. Er band ihre Schärpe auf und schob die Hände unter den Stoff, zog sie dicht zu sich heran. Dann löste er den Schal, der ihren Kopf bedeckte, zog ihn herab und strich mit der Hand über das kurze, seidige Haar.
    Â»Lass das«, sagte sie. »Es ist so hässlich.« Er wusste, dass sie sich nie mit dem Verlust ihrer herrlichen langen Haare abgefunden hatte, und auch nicht mit den Narben auf ihrem weißen Nacken, die jene Schönheit entstellten, die einst Gegenstand von Legenden und Aberglaube gewesen war. Doch er nahm diese Entstellung gar nicht wahr, sondern nur ihre gesteigerte Verletzlichkeit, die sie in seinen Augen noch schöner machte.
    Â»Mir gefällt es. Es ist wie bei einem Schauspieler. Du siehst damit männlich und weiblich zugleich aus, erwachsen, aber auch wie ein
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