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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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Vater Acht geben würde, wenn dieser die Zeremonien im Haupttempel ausführte. Sie hatte keine Angst. Shizuka und ihre Mutter waren mit kurzen Schwertern bewaffnet, und sie selbst hatte einen sehr nützlichen Stock in ihrem Gewand versteckt, mit dem sie einen Mann außer Gefecht setzen konnte, ohne ihn zu töten. Ein Trick, den ihr Lord Miyoshi Gemba beigebracht hatte, einer ihrer Lehrer in Terayama. Ein wenig hoffte sie sogar darauf, ihn ausprobieren zu können, aber es war eher unwahrscheinlich, dass man sie im Herzen von Inuyama angriffe.
    Trotzdem hatten Nacht und Dunkelheit etwas an sich, das sie auf der Hut sein ließ. Hatten ihre Lehrer ihr nicht ständig eingeschärft, ein Krieger müsse immer bereit sein, damit der Tod – sei es der des Gegners, sei es der eigene – durch Wachsamkeit verhindert werden konnte?
    Sie erreichten die Haupthalle des Tempels, in der Shigeko die Gestalt ihres Vaters erblickte, winzig im Verhältnis zur hohen Decke und zu den großen Statuen der Herrscher des Himmels, den Wächtern der nächsten Welt. Kaum zu glauben, dass diese würdevolle Person, die so ernst vor dem Altar saß, derselbe Mann war, gegenden sie am Nachmittag auf dem Nachtigallenboden gekämpft hatte. Sie wurde von Liebe und Achtung für ihn überwältigt.
    Nachdem sie vor dem Erleuchteten gebetet und ihre Gaben dargebracht hatten, entfernten sich die Frauen nach links und stiegen auf dem Berg noch ein wenig höher zum Tempel von Kannon, der großen Gnädigen. Dort blieben die Wachtposten draußen vor dem Tor stehen, weil das Betreten des Hofes nur Frauen erlaubt war.
    Doch als Shigeko sich auf die Holzstufe vor der glänzenden Statue kniete, zupfte Miki ihre ältere Schwester am Ärmel. »Shigeko«, flüsterte sie. »Was hat der Mann hier zu suchen?«
    Â»Wo ist hier ?«
    Miki zeigte zum Ende der Veranda. Von dort kam eine junge Frau auf sie zu, die allem Anschein nach ein Geschenk trug. Sie fiel vor Kaede auf die Knie und hielt ihr das Tablett hin.
    Â»Nicht anrühren!«, rief Shigeko. »Wie viele Männer, Miki?«
    Â»Zwei«, rief Miki. »Und sie haben Messer!«
    In diesem Moment sah Shigeko die beiden. Sie sausten durch die Luft, sprangen auf die Frauen zu. Sie schrie noch einmal eine Warnung und zog ihren Stock.
    Â»Sie werden Mutter töten!«, schrie Miki.
    Doch Kaede war schon durch Shigekos ersten Ruf alarmiert worden. Sie hatte das Schwert in der Hand. Das Mädchen warf ihr das Tablett ins Gesicht und zog seine Waffe, doch Shizuka wehrte den ersten Hieb ab,und als die Waffe im hohen Bogen davonflog, wandte sie sich zu den Männern um. Kaede packte die Frau, warf sie zu Boden und hielt sie fest.
    Â»Maya, ihr Mund!«, rief Shizuka. »Sie darf das Gift nicht schlucken.«
    Die Frau schlug und trat, doch Maya und Kaede zwängten ihr den Mund auf, und Maya ertastete die Giftkapsel darin und zog sie heraus.
    Shizukas nächster Hieb traf einen der Männer und sein Blut strömte über Stufen und Fußboden. Wie von Gemba gelernt, schlug Shigeko den anderen seitlich auf den Hals, und als er herumtaumelte, ließ sie den Stock zwischen seinen Beinen nach oben und direkt in seine Genitalien sausen. Er knickte ein und erbrach sich vor Schmerz.
    Â»Nicht töten!«, rief sie Shizuka zu, doch der Verwundete war in die Menge geflohen. Die Wachen holten ihn zwar ein, konnten ihn aber nicht vor dem aufgebrachten Mob retten.
    Shigeko war nicht so sehr betroffen wegen des Überfalls, sondern eher erstaunt über dessen Plumpheit und Scheitern. Sie hatte gedacht, dass Attentäter viel gefährlicher seien, aber als die Wachtposten den Hof betraten, um die zwei Überlebenden zu fesseln und wegzuführen, sah sie im Schein der Laternen ihre Gesichter.
    Â»Sie sind jung! Nicht viel älter als ich!«
    Der Blick des Mädchens begegnete dem ihren. Den Hass, der daraus sprach, würde sie nie vergessen. Zum ersten Mal hatte Shigeko gegen Gegner gekämpft, dieihren Tod wollten. Sie begriff, dass sie um ein Haar getötet hätte, und empfand sowohl Dankbarkeit als auch Erleichterung, weil sie diesen zwei jungen Menschen, die nur wenig älter waren als sie, nicht das Leben genommen hatte.

KAPITEL 3

    Â»Das sind Gosaburos Kinder«, sagte Takeo, als er sie erblickte. »Als ich sie zuletzt in Matsue gesehen habe, waren sie noch klein.« Ihre Namen standen im Stammbaum der
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