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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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zuzusehen, nahm wohlwollend zur Kenntnis, wie man die traditionellen Arten des Angreifens in eine Selbstverteidigung umgewandelt hatte, deren Ziel darin bestand, den Gegner zu entwaffnen, ohne ihn zu verletzen.
    Â»Schummeln gilt nicht«, sagte Shigeko zu Miki, denn die Zwillinge besaßen alle Stammesfähigkeiten ihres Vaters – seiner Vermutung nach sogar noch mehr. Nun, da sie dreizehn wurden, entwickelten sich diese Fähigkeiten in raschem Tempo, und obwohl man den Zwillingen verboten hatte, sie im Alltag zu gebrauchen, war die Verlockung, ihren Lehrern einen Streich zu spielen oder ihre Diener hinters Licht zu führen, manchmal einfach zu groß.
    Â»Warum darf ich Vater nicht zeigen, was ich gelernt habe?«, fragte Miki, denn auch sie war kürzlich von ihrem Training zurückgekehrt – bei der Mutofamilie im Dorf des Stammes. Maya, ihre Schwester, würde nach den Feierlichkeiten wieder dorthin reisen. Es kam nicht mehr oft vor, dass die ganze Familie beisammen war, denn die unterschiedliche Ausbildung der Kinder und die Tatsache, dass ihre Eltern allen Drei Ländern die gleiche Aufmerksamkeit widmen mussten, bedeuteten ständiges Reisen und häufige Trennungen. Das Regieren wurde immer anspruchsvoller: Verhandlungen mit den Fremden, Expeditionen und Handel, die Instandhaltung und Fortentwicklung der Waffen, die Aufsicht über dieLokalbezirke, die ihre Verwaltung selbst organisierten, landwirtschaftliche Experimente, die Einfuhr neuer Technologien und das Anwerben ausländischer Handwerker, die Gerichtstage, an denen Beschwerden und Sorgen angehört wurden. Takeo und Kaede schulterten diese Last zu gleichen Teilen, sie war in erster Linie für den Westen verantwortlich, er für das Mittlere Land, und gemeinsam kümmerten sie sich um den Osten, wo Kaedes Schwester Ai und deren Mann, Sonoda Mitsuru, über die frühere Tohandomäne herrschten.
    Miki war einen halben Kopf kleiner als ihre Schwester, aber sehr kräftig und schnell. Im Vergleich schien Shigeko sich kaum zu bewegen, doch dem jüngeren Mädchen gelang es trotzdem nicht, ihre Abwehr zu durchbrechen, und schon nach wenigen Augenblicken hatte Miki ihre Stange verloren: Es sah aus, als flöge sie aus ihren Fingern, und als sie durch die Luft sauste, fing Shigeko sie mühelos auf.
    Â»Du hast geschummelt!«, keuchte Miki.
    Â»Lord Gemba hat mich diesen Trick gelehrt«, sagte Shigeko stolz.
    Der andere Zwilling, Maya, probierte es als Nächstes und mit dem gleichen Ergebnis.
    Shigeko, die Wangen gerötet, sagte: »Vater, jetzt möchte ich mit dir kämpfen!«
    Â»Nun gut«, willigte er ein, denn was sie gelernt hatte, beeindruckte ihn, und er war neugierig, ob es der Kraft eines geübten Kriegers standhielt.
    Er griff sie rasch an, ohne zu zögern, und sie wurde von seinem ersten Ausfall überrumpelt. Seine Stange berührte ihre Brust. Er dämpfte die Wucht des Schlages, um sie nicht zu verletzen.
    Â»Ein Schwert hätte dich getötet«, sagte er.
    Â»Noch einmal«, erwiderte sie gelassen und diesmal war sie auf ihn vorbereitet. Sie bewegte sich leichtfüßig und schnell, wich zwei Schlägen aus und traf ihn rechts, an seiner schwächeren Hand, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Dann warf sie ihren Körper herum und seine Stange fiel zu Boden.
    Er hörte, wie die Zwillinge und die Wache einen Laut des Erstaunens ausstießen.
    Â»Gut gemacht«, sagte er.
    Â»Du hast dir nicht wirklich Mühe gegeben«, sagte Shigeko enttäuscht.
    Â»Das habe ich sehr wohl. Genau wie beim ersten Mal. Aber natürlich war ich erschöpft vom Kampf mit deiner Mutter und außerdem bin ich alt und nicht ganz in Form!«
    Â»Nein«, rief Maya. »Shigeko hat gewonnen!«
    Â»Aber das ist wie Schummeln«, sagte Miki ernst. »Wie machst du das?«
    Shigeko schüttelte lächelnd den Kopf. »Es hat mit der Kraft der Gedanken, des Geistes und der Hand zu tun, alles zusammen. Ich habe Monate gebraucht, um es zu lernen. Ich kann euch das nicht zeigen.«
    Â»Du hast dich sehr gut geschlagen«, sagte Kaede. »Ich bin stolz auf dich.« Ihre Stimme war voller Liebe und Bewunderung – wie immer, wenn es um ihre älteste Tochter ging.
    Die Zwillinge wechselten einen Blick.
    Sie sind eifersüchtig , dachte Takeo. Sie wissen, dass ihre Mutter sie nicht mit der gleichen Kraft liebt. Und wieder überkam ihn das vertraute
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