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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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waren angeboren – das hervorragende Sehvermögen, das scharfe Gehör, die Unsichtbarkeit, der Einsatz des zweiten Ichs –, aber auch viele andere Menschen besaßen ungeahnte Fähigkeiten, in deren Aufspürung und Verfeinerung die Aufgabe der Sekte bestand, die sich nachdem tief in den Wäldern um Terayama lebenden heiligen Vogel Weg des Houou nannte.
    Als Erstes mussten die ausgewählten Krieger schwören, kein lebendes Geschöpf zu töten, weder Mücke noch Motte noch Mensch, selbst dann nicht, wenn es um ihr eigenes Leben ging. Kenji hielt dies für Irrsinn, denn er konnte sich nur allzu gut an die vielen Male erinnern, als er ein Messer in Herz oder Arterie gestoßen, die Garrotte zugezogen, Gift in einen Becher oder eine Schale, ja sogar in den offenen Mund eines Schlafenden geträufelt hatte. Wie viele? Er konnte sie nicht mehr zählen. Er empfand keine Reue wegen all der Menschen, die er in das nächste Leben geschickt hatte – denn irgendwann musste jeder Mensch sterben –, doch er begriff, welchen Mut es erforderte, sich der Welt unbewaffnet zu stellen, und erkannte, dass die Entscheidung, nicht zu töten, viel schwerer sein konnte als die Entscheidung, zu töten. Er war nicht unberührt vom Frieden und von der spirituellen Kraft Terayamas. In letzter Zeit bestand seine größte Freude darin, Takeo dorthin zu begleiten und Matsuda und Makoto Gesellschaft zu leisten.
    Das Ende seines Lebens war nah, das wusste er. Er war alt und allmählich verließen ihn Gesundheit und Kraft – seit Monaten plagte ihn ein Lungenleiden und er spuckte regelmäßig Blut.
    Also hatte Takeo sowohl den Stamm als auch die Krieger gezähmt. Nur die Kikuta widerstanden ihm, und sie versuchten nicht nur, ihn zu töten, sondern starteten immer wieder Angriffe von jenseits der Grenze, schmiedeten Bündnisse mit unzufriedenen Kriegern, verbreiteten haltlose Gerüchte und begingen wahllos Attentate, weil sie hofften, die Gemeinschaft so ins Wanken bringen zu können.
    Takeo sprach wieder, diesmal ernster: »Dieser letzte Überfall hat mich mehr aufgerüttelt als jeder andere, denn er war nicht gegen mich, sondern gegen meine Familie gerichtet. Wenn meine Frau oder meine Kinder ums Leben kämen, würde das mich und die Drei Länder zerstören.«
    Â»Genau das ist das Ziel der Kikuta, nehme ich an«, sagte Kenji gelassen.
    Â»Werden sie jemals aufgeben?«
    Â»Akio niemals. Sein Hass auf dich wird erst mit seinem Tod enden – oder deinem. Diesem Ziel hat er sein ganzes Leben gewidmet.« Kenjis Miene erstarrte und seine Lippen zuckten verbittert. Er trank noch einen Schluck. »Aber Gosaburo ist Kaufmann und daher von pragmatischem Wesen. Die Aussicht, sein Haus in Matsue und sein Geschäft zu verlieren, wird ihm nicht schmecken, und der mögliche Verlust seiner Kinder wird ihn schrecken – ein Sohn tot, der zweite Sohn und seine Tochter in deiner Hand. Wir müssten einen gewissen Druck auf ihn ausüben können.«
    Â»Genau das dachte ich auch. Wir werden die beiden bis zum Frühling verschonen und dann abwarten, ob ihr Vater zu Verhandlungen bereit ist.«
    Â»In der Zwischenzeit könnten wir ihnen ein paar nützliche Informationen entlocken«, brummte Kenji.
    Takeo sah ihn über den Rand seines Bechers hinweg an.
    Â»Schon gut, schon gut, vergiss meine Worte«, brummelte der alte Mann. »Aber du bist dumm, wenn du nicht die gleichen Methoden anwendest wie deine Feinde.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wette, dass du immer noch Motten vor der Kerzenflamme rettest. Diese Sanftmut hat man dir nie austreiben können.«
    Takeo lächelte nur leise. Die Lehren seiner Kindheit abzuschütteln, war ihm schwergefallen. Durch die Erziehung bei den Verborgenen hatte er große Hemmungen, was das Töten von Menschen betraf. Doch im sechzehnten Lebensjahr hatte ihn das Schicksal auf den Pfad des Kriegers geführt. Er war Erbe eines großen Clans geworden und nun war er das Oberhaupt der Drei Länder. Er hatte lernen müssen, den Weg des Schwertes zu gehen. Außerdem hatte ihn der Stamm, ja Kenji selbst, viele Arten des Tötens gelehrt und versucht, sein angeborenes Mitgefühl zu ersticken. Bei seinem Bemühen, Shigerus Tod zu rächen und die Drei Länder im Frieden zu vereinen, hatte er zahllose Gewalttaten verübt, von denen er inzwischen viele tief
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