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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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bereute, und es hatte lange gedauert, bis er gelernt hatte, Härte und Mitgefühl miteinander zu vereinbaren. Im Grunde hatten sich erst durch Wohlstand und Stabilität der Länder sowie durch die Herrschaft des Rechts verlockendere Alternativen zu den blindwütigen Machtkämpfen der Clans ergeben.
    Â»Ich würde gern den Jungen wiedersehen«, sagte Kenji unvermittelt. »Vielleicht ist es meine letzte Gelegenheit.« Er sah Takeo scharf an. »Hast du dich entschieden, was du mit ihm anfängst?«
    Takeo schüttelte den Kopf. »Nur, dass ich nichts entscheiden will. Was kann ich schon tun? Vermutlich möchte die Mutofamilie – ja, möchtest du selbst – ihn zurückhaben?«
    Â»Natürlich. Aber wie Akio meiner Frau erzählt hat, die vor ihrem Tod Kontakt zu ihm hatte, würde er den Jungen eher töten als hergeben, ob an die Muto oder an dich.«
    Â»Armer Junge. Welche Erziehung mag er gehabt haben!«, rief Takeo aus.
    Â»Nun ja, selbst im besten Falle ist die Erziehung im Stamm sehr hart«, antwortete Kenji.
    Â»Weiß er, dass ich sein Vater bin?«
    Â»Das ist eines der Dinge, die ich herausfinden kann.«
    Â»Für einen solchen Auftrag bist du nicht gesund genug«, sagte Takeo, aber da ihm niemand anderer einfiel, den er schicken konnte, klang er zögerlich.
    Kenji grinste. »Meine schlechte Gesundheit ist noch ein Grund zu gehen. Wenn ich das Jahr sowieso nicht überlebe, kann ich dir wenigstens noch von Nutzen sein! Außerdem möchte ich meinen Enkelsohn noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Sobald das Tauwetter einsetzt, breche ich auf.«
    Wein, Bedauern und Erinnerungen hatten Takeo aufgewühlt. Er umarmte seinen alten Lehrer.
    Â»Na, na!«, sagte Kenji und gab Takeo einen Klaps auf die Schulter. »Du weißt doch, wie sehr ich Gefühlsausbrüche verabscheue. Besuche mich in diesem Winter so oft wie möglich. Wir werden noch ein paarmal tüchtig zusammen bechern.«

KAPITEL 4

    Der Junge, Hisao, nun sechzehn Jahre alt, ähnelte seiner verstorbenen Großmutter. Er sah weder dem Mann ähnlich, den er für seinen Vater hielt, Kikuta Akio, noch seinem wahren Vater, den er nie gesehen hatte. Er hatte äußerlich nichts von der Mutofamilie seiner Mutter oder den Kikuta – und auch, wie immer deutlicher wurde, keine ihrer magischen Fähigkeiten. Sein Gehör war nicht schärfer als das von irgendeinem Jungen seines Alters. Die Unsichtbarkeit vermochte er weder einzusetzen noch zu erkennen. Da er von Kindesbeinen an trainiert hatte, war er gelenkig und kräftig, konnte aber weder springen noch fliegen wie sein Vater, und zum Einschlafen brachte er die Leute nur durch schiere Langeweile, denn er sprach selten, und wenn, dann langsam und stockend und ohne jeden Funken Witz oder Originalität.
    Akio war Herr der Kikuta, der größten Familie des Stammes. Der Stamm besaß jene Fähigkeiten, die früher einmal alle Menschen gehabt hatten, aber inzwischen schienen diese Gaben sogar im Stamm zu schwinden. Hisao war sich von frühester Kindheit an bewusst gewesen, wie sehr er seinen Vater enttäuschte. Er hatte stets bemerkt, dass alles, was er tat, mit Luchsaugen beobachtet wurde, er hatte die Hoffnung gespürt, dann die Verärgerung, und am Ende war er immer bestraft worden.
    Denn der Stamm erzog seine Kinder so hart wie möglich, lehrte sie bedingungslosen Gehorsam, brachte ihnen bei, schlimmsten Hunger und Durst zu ertragen, glühende Hitze, bittere Kälte und Schmerz, trieb ihnen jedes menschliche Gefühl aus, jeden Funken Mitgefühl und Mitleid. Im Falle seines eigenen Sohnes Hisao, seines einzigen Kindes, war Akio am unbarmherzigsten, zeigte vor anderen niemals Verständnis oder Zuneigung für ihn und behandelte ihn mit einer Grausamkeit, die sogar seine eigenen Verwandten in Erstaunen versetzte. Doch Akio war das Oberhaupt der Familie, Nachfolger seines Onkels Kotaro, der in Hagi von Otori Takeo und Muto Kenji getötet worden war, als die Mutofamilie die uralten Bande mit dem Stamm gekappt, ihr eigenes Fleisch und Blut verraten hatte und Diener der Otori geworden war. Und als Oberhaupt konnte Akio tun, was ihm beliebte. Niemand durfte ihn kritisieren oder ihm den Gehorsam verweigern.
    Akio war zu einem verbitterten und unberechenbaren Mann geworden, innerlich zerfressen von der Trauer und den Verlusten, die er im Leben erfahren hatte und alle Otori Takeo
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