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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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anlastete, nun Herrscher über die Drei Länder. Otori Takeo hatte Schuld daran, dass der Stamm zerfallen und der legendäre und vielfach verehrte Kotaro, der berühmte Ringer Hajime und viele andere ums Leben gekommen waren. Außerdem verfolgte er die Kikuta so hartnäckig, dass die meisten von ihnen aus den Drei Ländern nach Norden gezogen waren. Als Folge waren ihre einträglichen Geschäfte, darunter der Geldverleih, von den Muto übernommen worden, die wie alle anderen Kaufleute Steuern zahlten und den Reichtum mehrten, der den Drei Ländern zu Wohlstand und Blüte verhalf. Für Spione gab es dort fast nichts zu tun, außer für jene, die in Takeos Diensten standen, und ab und zu heuerte man Attentäter an.
    Kikutakinder schliefen mit den Füßen nach Westen, sie begrüßten einander mit den Worten »Ist Otori endlich tot?« und erwiderten den Gruß, indem sie sagten: »Noch nicht, aber bald.«
    Man erzählte, dass Akio seine Frau, Muto Yuki, verzweifelt geliebt habe und dass ihr Tod zusammen mit dem Kotaros der Grund für seine Verbitterung war. Allgemein wurde angenommen, sie wäre nach der Geburt Hisaos am Kindbettfieber gestorben. Ungerechterweise gaben Väter oft dem Kind die Schuld am Tod einer geliebten Frau, aber das war die einzige Schwäche, die Akio je zeigte. Hisao schien es, als habe er von Anfang an die Wahrheit gekannt: Seine Mutter war gestorben, weil man sie gezwungen hatte, Gift zu schlucken. Er erinnerte sich so deutlich an die Szene, als hätte er sie mit seinen eigenen, schwachen Babyaugen gesehen. Die Verzweiflung und Wut der Frau, ihre Trauer darüber, ihr Kind allein zu lassen. Die Unnachgiebigkeit des Mannes, der den Tod der einzigen Frau herbeiführte, die er je geliebt hatte. Ihr Trotz, als sie die Eisenhutkügelchen schluckte. Dann ihr heftiges Bedauern, ihr Schreien und Schluchzen, denn sie war erst zwanzig Jahre alt und schied viel zu früh aus dem Leben. Der wilde Schmerz, der ihren Körper schüttelte.Die grimmige Befriedigung des Mannes, weil sich seine Rache wenigstens zum Teil erfüllt hatte. Und schließlich das Wahrnehmen des eigenen Verlusts und der ungute Genuss, den ihm dieser Schmerz schenkte. Durch diese Tat begann er, dem Bösen zu verfallen.
    Hisao hatte das Gefühl, mit dem Wissen um diese Dinge aufgewachsen zu sein. Trotzdem hatte er vergessen, wie er davon erfahren hatte. Hatte er sie geträumt oder waren sie ihm von jemandem erzählt worden? Er konnte sich viel zu genau an seine Mutter erinnern – bei ihrem Tod war er erst wenige Tage alt gewesen –, und er spürte etwas am Rand seines Bewusstseins, das er mit ihr in Verbindung brachte. Er fühlte oft, dass sie etwas von ihm wollte, fürchtete sich aber davor, ihre Forderungen anzuhören, weil dies bedeutet hätte, sich dem Jenseits zu öffnen. Zerrissen zwischen dem Zorn der Toten und seinem eigenen Zögern, schien sein Kopf vor Schmerz zu explodieren.
    Daher wusste er von der Wut seiner Mutter und vom Leid seines Vaters, und so kam es, dass er Akio sowohl hasste als auch bemitleidete, und das Mitleid machte alles erträglicher. Nicht nur die Beschimpfungen und Strafen bei Tage, sondern auch die Tränen und Zärtlichkeiten bei Nacht, all die dunklen Dinge, die sich zwischen ihnen abspielten und die er halb fürchtete und halb ersehnte, weil es die einzigen Gelegenheiten waren, bei denen er in den Arm genommen wurde und gebraucht zu werden schien.
    Hisao erzählte niemandem, dass die tote Frau ihn rief. Und deshalb erfuhr niemand von der Stammesfähigkeit, die er geerbt hatte, eine Fähigkeit, die seit vielen Generationen geruht hatte, seit der grauen Vorzeit, als die Schamanen von einer Welt in die nächste gewechselt waren und zwischen den Lebenden und den Toten vermittelt hatten. Damals hätte man jemanden mit dieser seltenen Fähigkeit gefördert, gefürchtet und geachtet, aber Hisao wurde von fast allen verlacht und verachtet. Er wusste nicht, wie er mit seiner Gabe umgehen sollte. Die Visionen aus der Welt der Toten waren nebulös und rätselhaft, und er kannte weder die geheimen Symbole, durch die man mit den Toten Zwiesprache hielt, noch deren geheime Sprache. Kein Lebender konnte ihn darin unterweisen.
    Er wusste nur, bei dem Geist handelte es sich um seine Mutter und man hatte sie ermordet.
    Er arbeitete gern mit den Händen und er mochte Tiere, lernte aber
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