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Der blaue Mond

Der blaue Mond

Titel: Der blaue Mond
Autoren: Alyson Noël
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Fähigkeiten ist nämlich, dass ich nicht mehr lernen muss, sondern alle Antworten einfach irgendwie weiß. Und obwohl es mich manchmal reizt, aufzutrumpfen und sämtliche Prüfungen mit einer ununterbrochenen Reihe von Bestnoten zu bestehen, halte ich mich meistens zurück und schreibe ein paar falsche Antworten hin, weil ich es auf keinen Fall übertreiben darf.
    Das sagt zumindest Damen. Immer wieder schärft er mir ein, wie wichtig es ist, sich unauffällig zu benehmen und wenigstens den Anschein zu erwecken, normal zu sein - auch wenn wir alles andere als das sind. Als er das zum ersten Mal erklärt hat, konnte ich mir allerdings den kleinen Seitenhieb nicht verkneifen, dass er zu Beginn unserer Beziehung unzählige Tulpen manifestiert habe. Doch er meinte nur, bei seinen Bemühungen, mich für sich zu gewinnen, habe er sich eben gewisse Freiheiten gestatten müssen. Schließlich habe es sich länger als nötig hingezogen, weil ich mir erst dann die Mühe gemacht hätte, die Symbolik von Tulpen als Zeichen unsterblicher Liebe zu ergründen, als es fast schon zu spät war.
    Ich reiche Mr. Munoz das Blatt und zucke zusammen, als sich unsere Fingerspitzen kurz berühren. Obwohl unser Hautkontakt kaum mehr als ein blitzartiges Streifen war, hat es immer noch genügt, um mir weitaus mehr zu zeigen, als ich jemals wissen wollte und mir einen ziemlich klaren optischen Eindruck seines bisherigen Vormittags verschafft. Ich sehe alles - seine unglaublich schlampige Wohnung mit dem von Fastfoodbehältern übersäten Küchentisch, auf dem auch noch mehrere Versionen des Manuskripts liegen, an dem er seit sieben Jahren arbeitet; ich sehe, wie er in voller Lautstärke Born to Run singt, während er hektisch nach einem sauberen Hemd sucht, ehe er zu Starbucks geht, wo er mit einer zierlichen Blondine zusammenstößt, die ihm ihren Iced Venti Chai Latte frontal übers Hemd kippt, was einen kalten, nassen, ärgerlichen Fleck ergibt, den ein Funken ihres strahlenden Lächelns regelrecht wegzuzaubern schien. Ein hinreißendes Lächeln, das er offenbar nicht vergessen kann - ein hinreißendes Lächeln, das - meiner Tante gehört!
    »Willst du warten, während ich die Arbeit korrigiere?«
    Ich nicke und fange beinahe an zu hyperventilieren, während ich mich auf seinen Rotstift konzentriere. Immer wieder lasse ich die Szene ablaufen, die ich gerade in meinem Kopf gesehen habe, und komme jedes Mal wieder zum gleichen Schluss: Mein Geschichtslehrer ist scharf auf Sabine!
    Das kann ich nicht zulassen. Ich darf sie nie wieder dorthin gehen lassen. Ich meine, nur weil sie beide gebildet, gut aussehend und Singles sind, heißt das nicht, dass sie was miteinander anfangen müssten.
    Wie erstarrt stehe ich da und kann kaum atmen, während ich versuche, die Gedanken in seinem Kopf auszulöschen, indem ich mich auf die Spitze seines Rotstifts konzentriere. Ich beobachte, wie er eine Spur winziger roter Pünktchen zieht, die bei Ziffer siebzehn und fünfundzwanzig zu Korrekturzeichen werden - genau wie von mir geplant.
    »Nur zwei falsch. Sehr gut!« Er lächelt und fährt mit den Fingern über den Fleck auf seinem Hemd, wobei er sich fragt, ob er sie wohl je wiedersehen wird. »Möchtest du die richtigen Antworten wissen?«
    Ah, eigentlich nicht, denke ich, weil ich so schnell wie möglich hier raus will, und zwar nicht nur, um zum Lunchtisch zu kommen und Damen zu sehen, sondern für den Fall, dass sein Tagtraum sich dort fortsetzt, wo ich ihn gezwungen habe aufzuhören.
    Da ich jedoch weiß, dass es normal wäre, sich wenigstens etwas interessiert zu zeigen, hole ich tief Luft und nicke, als wäre mir nichts lieber als das. Und während er mir den Lösungsschlüssel präsentiert, heuchle ich, so gut ich kann. »Oh«, sage ich, »Mann, da hab ich mich ja total in der Jahreszahl getäuscht.« Und: »Ja, natürlich! Dass ich darauf nicht gekommen bin? Puh!«
    Doch er nickt nur, vor allem weil er in Gedanken längst wieder bei der Blondine ist - beziehungsweise der einzigen Frau im gesamten Universum, die absolut tabu für ihn ist\ Gerade fragt er sich, ob sie wohl morgen auch dort sein wird - am gleichen Ort, zur gleichen Zeit.
    Und obwohl mich die Vorstellung lüsterner Lehrer schon ganz allgemein ziemlich anwidert, ist die Tatsache, dass dieser spezielle Lehrer scharf auf eine Frau ist, die praktisch wie eine Mutter für mich ist, völlig untragbar.
    Da fällt mir wieder ein, dass ich erst vor ein paar Monaten eine Vision von Sabine hatte,
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