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Der bewaffnete Freund

Der bewaffnete Freund

Titel: Der bewaffnete Freund
Autoren: Raul Zelik
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Guardia Civil zwingt die Angestellten von Sonido Estereo nicht, die Lautsprecher auseinander zu nehmen. Die Polizisten werfen einen oberflächlichen Blick in den Laderaum des LKW, nicken herrisch und winken den Lastwagen durch. Das Fahrzeug – und mit ihm der junge Mann, sein Begleiter aus dem SEAT, ein Fahrer und der flüchtige Häftling – rollt durch die Vororte einer Kur- und Hafenstadt. Der Himmel sieht wild aus, das Meer aufgeschäumt, grünweiß, man spürt so etwas wie Euphorie.
    Schließlich hält der LKW vor einer Lagerhalle. Unsere Hauptperson steigt nach hinten und zieht die Schaumstoffbedeckung von der Lautsprecherbox. Der flüchtige Gefangene, der nun etwas ungelenk heraus kriecht, fällt unserer Hauptperson glücklich in die Arme. Er ist jetzt genau zu erkennen: Es ist der Autor des Buchs, das die Hauptperson am Morgen in der Hand hielt, der Schriftsteller Joseba Sarrionandia, schon damals ziemlich bekannt: Gründer einer illegalen Literaturzeitung, Aktivist einer Organisation, deren Name in den achtziger Jahren noch einen anderen Klang besaß, bis heute einer der wichtigsten Autoren der Region um X.
    Unsere Hauptperson streicht ihm über den Kopf, die beiden Männer wünschen sich Glück, dann springt der geflohene Häftling aus dem Laderaum auf die Straße und verschwindet in einem Hauseingang, wo man ihn offensichtlich erwartet. Sein Befreier hingegen steigt zurück in die Fahrerkabine und fährt mit dem LKW zum Firmensitz von Sonido Estereo, von wo er noch am gleichen Vormittag aufbrechen wird, um die Grenze nach Frankreich zu überqueren.
    Wir schreiben das Jahr 1985, weder unser Protagonist noch der Schriftsteller sind seitdem zurückgekehrt.
     
    Dass Zubieta derjenige war, der Sarrionandia 1985 aus dem Gefängnis befreite, habe ich erst Jahre später aus der Zeitung erfahren. Dabei wusste ich über die Flucht Bescheid. Es gibt ein ziemlich bekanntes Lied, das die Geschichte erzählt und auf den Volksfesten in der Region um X oft gespielt wurde.
     
    Die letzte Etappe unserer Reise legen Rabbee und ich am nächsten Morgen mit dem Zug zurück. Von Pancorbo nach X sind es noch einmal fast drei Stunden.
    Als wir in der Stadt ankommen, ist es drückend heiß. Die vom Atlantik hereindrängende Meeresluft staut sich an den Ausläufern des kantabrischen Gebirges und heizt sich auf. Feuchte, fast tropische Hitze. Euphorisch laufe ich über die Bahngleise zum Ausgang hinunter. Ich bin glücklich, wieder hier zu sein, zum ersten Mal länger als nur für ein oder zwei Monate. Während wir schwitzend Richtung Innenstadt gehen, erkläre ich Rabbee die Struktur der Stadt. Die Ria, die von den Gezeiten geformte Flussmündung, teilt X in zwei Hälften. Am linken Ufer des schmutzigen, trüben Flusses breitete sich früher eines der größten Arbeiterviertel Europas aus, mittlerweile ist auch diese Seite gründlich saniert. Die Rost- und Grautöne der Stahlindustrie sind von glänzenden Glas- und Chrombauten abgelöst worden: Museen, Kongress-Center, Hotels. Zügig strömt der gut organisierte Verkehr durch die Straßen, eine neue Trambahn gleitet durchs Blickfeld, Parfumerien und Modegeschäfte bestimmen das Bild. Noch vor zwanzig Jahren, hat Montserrat einmal erzählt, konnte man in X weiße Kleidung nicht draußen zum Trocknen aufhängen, weil sie von Abgasen zerfressen wurde. Angeblich spendierten die Unternehmen den Anwohnern regelmäßig neue Gardinen. Heute sind es nur noch ein paar Papierfabriken am Stadtrand, die die Luft verschmutzen.
    Man kann wieder atmen – dafür sind Hunderttausend Arbeitsplätze allein am linken Ufer des Flusses verschwunden, und Immobilienunternehmen verwandeln die alten Arbeiterquartiere in repräsentative Bürokomplexe und Wohnungen für den Mittelstand.
    Rabbee lacht. »In Andalusien sieht man ja noch die eine oder andere Schmuddelecke. Aber das hier ist eindeutig la petite bourgeoisie … Schweiz, Genfer See oder so.«
    »Am Genfer See«, antworte ich, »wählen nicht fünfzehn Prozent linksradikal.«
    Wir fahren vier Stationen mit der U-Bahn, die aussieht wie ein Ausstellungsstück der letzten Architekturbiennale. Montse, die ihre Ferien in Marokko, Mexiko oder der Dominikanischen Republik verbringt, ich erinnere mich nicht genau, hat uns ihren Wohnungsschlüssel in einer nah gelegenen Kneipe hinterlegt, weil ich meine eigene Wohnung erst zum Monatsanfang beziehen kann. Als Rabbee und ich das Lokal betreten, suche ich nach einem Hinweis auf den Ausnahmezustand, der in und
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